Rauch von Feuerstellen weht über den Vorplatz des Tempels. Priester Arumugam Paskaran enthüllt die kleine, bunte Statue der Hindu-Göttin Kamadchi auf dem Festwagen. Ein Raunen geht durch die Menge der bunt gekleideten Hindus. Zahlreiche Rosenblüten in gelb, rosa und orange, Blumengirlanden und Kränze schmücken die etwa einen halben Meter hohe Figur. Vor dem Wagen mit der Göttin steht ein Gabentisch mit Kokosnüssen, Orangen und Bananen, dazu Schalen mit Feuer, Räucherstäbchen und weiteren Blumen.
In Sanskrit und Tamil schallen Anweisungen über das Festgelände, dazu Gebete und Livemusik. Wer die Sprache nicht versteht, für den wirkt das Treiben unverständlich - es sei denn, er bekommt Hilfe von jemandem, der sich auskennt: Kapil Pathmakumaran studiert in Göttingen und ist Tamile. Er ist einer von 10.000 bis 20.000 Hindus, die jedes Jahr das Tempelfest im westfälischen Hamm besuchen. Beten, feiern, Freunde treffen, "das gehört alles zusammen", sagt er.
Zu Trommelwirbel und indischer Oboe setzt sich der Festwagen mit der Hindu-Göttin in Bewegung. An zwei zehn Meter langen Kordeln ziehen links Frauen, rechts Männer den Wagen in einer dreistündigen Prozession um den Tempel. Pulsierendes Leben trifft auf Industrie-Charme - das Tempelgelände gleicht einer leuchtenden Oase, eingerahmt von Kohlekraftwerk, Schlachthof und Lagerhallen mitten im Industriegebiet in Hamm. An der Spitze des Zuges gehen die Tänzer, dahinter ein Wagen mit dem von Hindus verehrten Gott Ganesha und der große Festwagen mit Kamadchi. Im Anschluss folgen betende Frauen. Sie halten Opfergaben in den Händen und rezitieren die 108 Namen der Göttin.
"Die mit den Augen der Liebe"
Der Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel ist der größte Hindu-Tempel in Deutschland und der zweitgrößte in Europa. Der Festumzug ist der Höhepunkt des zweiwöchigen Tempelfestes zu Ehren der Göttin. Kamadchi bedeutet übersetzt "Die Wünsche von den Augen abliest" oder "Die mit den Augen der Liebe". Sie wird von Hindus als Göttin der Barmherzigkeit verehrt.
Die Wege der Götter zeigten mögliche Weg zur Erlösung, sagt Kapil. Sie hätten eine Vorbildfunktion. Die Gläubigen sollen das Herz frei machen und weltlichen Begierden entsagen. "In der materialistischen Welt heute ist es sehr schwer, auf etwas zu verzichten", gibt Kapil zu bedenken.
Nur barfuß in den Tempel
Draußen auf dem Vorplatz vor dem Tempel liegen im Staub verstreut unzählige Schuhe. Sie gelten als schmutzig und unrein. Den Tempel dürfen Menschen nur barfuß betreten. Drinnen bietet sich dem Besucher ein ungewöhnliches Bild: Im Zentrum steht der größte Schrein für die Hauptgöttin des Tempels, dahinter kleinere Schreine für weitere Götter. Rund um die Schreine stehen auf dem Boden, in Nischen und auf Bierbänken Tetrapacks mit haltbarer Milch, Plastikflaschen mit Sonnenblumenöl und Müllbeutel mit Kokosnüssen. Priester übergießen die Statuen der Götter mit diesen als heilig geltenden Säften. Der Fußboden ist gefliest, die Figuren lassen sich so später unkompliziert waschen.
In einer Schlange mit zahlreichen Besuchern zieht Kapil durch den Tempel, umrundet die Schreine im Uhrzeigersinn und betet. Danach verlässt er den Tempel, schlüpft in seine Schuhe und drängt sich durch die Menge zu einem Gabentisch. Darauf steht eine Schale mit einer weißen, klebrigen Flüssigkeit, die aus Asche hergestellt wird.
Er tunkt den Finger in die Masse und tupft einen Punkt auf seine Stirn - als Segenszeichen, wie er sagt. Es sauge alle negativen Eigenschaften auf, erklärt der Hindu die Zeichenhandlung, die ein wenig an das christliche Aschekreuz erinnert. "Getrocknet fällt es von der Stirn ab - und damit auch alles Schlechte von seinem Träger."
Schmerzhafte Rituale
Symbolische Handlungen wie diese gehören zum festen Bestandteil des Festes. Manche Tänzer lassen sich Haken durch die Haut am Rücken bohren. Um weniger Schmerz zu empfinden kauen sie dazu auf Betelnüssen, die betäubend und berauschend wirken. Eine zweite Person hält an den Haken befestigte Kordeln in der Hand - und damit den berauschten Tänzer im Zaum. Andere haben sich zusätzlich einen Metallspeer durch den Mund stechen lassen. "Der Schmerz gilt als Buße", erklärt Kapil. Das Leiden ehre die Götter.
Ein anderes Ritual ist eher nach Kapils Geschmack: Er nimmt eine Kokosnuss aus einer randvoll gefüllten blauen Mülltüte und drängt sich durch die Menge der feiernden Hindus bis zu einem freien Fleckchen in der Mitte des Tempelhofs. Dort wirft er die Nuss mit aller Kraft zu Boden. Sie platzt auf, der Saft fließt über den Steinboden, auf dem bereits unzählige Kokosnussstücke liegen. "Wir schütteln so alles Negative ab", sagt Kapil. Die Kokosnuss stehe zudem für die Erde, "außen hart und innen ein weicher Kern". Die Milch symbolisiert den Saft des Lebens.
Hamm als europäisches Zentrum des Exil-Hinduismus
Initiator des Tempels und verantwortlicher Priester ist Arumugam Paskaran. Wie rund 60.000 Tamilen floh er in den 1980er Jahren aufgrund des Bürgerkriegs aus Sri Lanka nach Deutschland. Eigentlich sei Paris sein Ziel gewesen, heißt es. Warum Paskaran in Hamm aus dem Zug stieg, darum ranken sich verschiedene Erzählungen. In der einen wird von einer göttlichen Eingebung gesprochen. Glaubt man der anderen, hatte der Priester einfach Hunger.
Hamm entwickelte sich zu einem Zentrum des Exil-Hinduismus in Europa. Den ersten Tempel gründete Paskaran 1989 in seiner Wohnung, 2002 folgte der heutige Tempel: ein flacher Bau mit einem 17 Meter hohen, spitz zulaufenden Turm, an dem in leuchtend bunten Farben kleine Götterfiguren befestigt sind. Das Tempelfest strahlt weit über Deutschland hinaus, aus ganz Europa kommen Besucher. Einige Priester reisen sogar aus Sri Lanka an.
Kapil ist nach dem Festumzug auf dem Weg zu Krishna, dem Gott der Freude, Liebe und Weisheit. Auf einem Podest auf der Wiese hinter dem Tempel steht die vier Meter hohe Statue des Gottes: schwarz, mit gelbem Gewand und bunten Blumen geschmückt. Zwischen Gewürzen, Saris und Süßigkeiten trifft Kapil auf dem angrenzenden Basar danach Freunde, Verwandte und Bekannte. Familien haben kistenweise Gemüsecurry, Reis und Fladen aus Linsenmehl in Warmhalteboxen mitgebracht und verteilen es an Besucher. Offiziell endet das Fest am folgenden Tag mit rituellen Waschungen in der Lippe.