Gerade erst hat eine Kommission der Bundesregierung Vorschläge für eine Stärkung strukturschwacher Regionen und gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland vorgelegt. Für viele Bundesbürger gehört dazu ganz zentral: ein Krankenhaus in erreichbarer Entfernung.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung geht auf den ersten Blick genau in die andere Richtung: "Mit weniger als der Hälfte der Krankenhäuser wären Patienten besser versorgt", heißt es in der am Montag in Gütersloh veröffentlichten Untersuchung. Sie schlägt eine starke Verringerung der Zahl der Kliniken in Deutschland vor: von aktuell knapp 1.400 in den Landeskrankenhausplänen vorgesehenen Allgemeinkrankenhäusern auf deutlich unter 600 Häuser.
Nicht nur an Fahrzeiten orientieren
Stiftungsvorstand Brigitte Mohn packt dabei ein heißes Eisen an: das von Krankenkassen und Politik verfolgte Ziel, dass jeder Bundesbürger innerhalb von 30 Minuten ein Krankenhaus der Grundversorgung erreichen können müsste. "Eine vordringliche Orientierung an Fahrzeiten ginge in die falsche Richtung", betont Mohn.
"Wenn ein Schlaganfallpatient die nächstgelegene Klinik nach 30 Minuten erreicht, dort aber keinen entsprechend qualifizierten Arzt und nicht die medizinisch notwendige Fachabteilung vorfindet, wäre er sicher lieber ein paar Minuten länger zu einer gut ausgestatteten Klinik gefahren worden."
"Gut ausgebildetes Personal ist knapp"
Mohn will stattdessen eine Orientierung an der Qualität der Versorgung: 2017 verfügte rund ein Drittel (666) der Häuser über maximal 100 Betten. Sie könnten oft nicht die nötige Ausstattung und Erfahrung vorweisen, um lebensbedrohliche Notfälle wie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall angemessen zu behandeln, heißt es in der Studie. So verfügte 2017 jede dritte Klinik nicht über einen Computertomographen (CT) und 61 Prozent nicht über eine Koronarangiographie.
Die Folge: Defizite bei Behandlungsqualität und Patientensicherheit sowie gesteigerte Personalprobleme. Gut ausgebildete Ärzte und Pflegekräfte sind knapp. "Ein gut erreichbares Krankenhaus ist, wenn dort kein Facharzt verfügbar ist, nur vermeintlich ein Vorteil: Es ist in Wahrheit ein gravierender Qualitätsnachteil", warnt die Studie. "Nur Kliniken mit größeren Fachabteilungen und mehr Patienten haben genügend Erfahrung für eine sichere Behandlung", schreiben die Autoren.
Aufbau alternativer Strukturen
Konkret fordern sie daher eine Abkehr von der bisher drei- und zum Teil sogar vierstufigen Krankenhausstruktur (Grund- und Regelversorgung, Schwerpunkt- sowie Maximalversorgung, Fachkliniken). Sie soll abgelöst werden durch ein zweistufiges System mit "Neuer Regelversorgung" in Mittelzentren und einer "Maximalversorgung" in Groß- und Oberzentren.
Dass die Situation in manchen ländlichen Regionen aber weit schwieriger ist als in Metropolregionen wie der Rhein-Schiene, deutet die Studie nur an. Dort bestehe ein echter Zielkonflikt zwischen Erreichbarkeit und Versorgungsqualität, heißt es an einer Stelle. Dennoch dürfe man mangelhaft ausgestattete Kliniken auf dem Land nicht weiter in der Versorgung belassen, fordern die Experten. Stattdessen müssten alternative Strukturen der Rettungsdienste aufgebaut und Konzepte der Zubringerdienste auch für Angehörige entwickelt werden.
"Komplexer als der Kohleausstieg"
Den Studienautoren ist klar: "Die Neuordnung der Krankenhaus-Landschaft ist ein Strukturwandel ähnlich wie der Kohleausstieg, aber ungleich komplexer", heißt es. Er werde zunächst keine Einsparungen bringen, sondern müsse wie der Kohleausstieg auch finanziell, das heißt mit Steuermitteln, flankiert werden.
Was aus Sicht von Wissenschaftlern logisch erscheint, hat für die verantwortlichen Politiker noch eine zusätzliche Dimension: den Kampf um Wählerstimmen. Denn kaum ein Thema bringt die Bevölkerung so auf die Barrikaden wie die Schließung des örtlichen Krankenhauses. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat kürzlich erklärt, dass Krankenhäuser vor Ort "für viele Bürger ein Stück Heimat" seien. Bundesweit rund 120 Kliniken in ländlichen Regionen, zu denen es in erreichbarer Nähe keine Alternative gibt, sollen deshalb ab kommendem Jahr jährlich jeweils 400.000 Euro erhalten.
"Befremdliche Vorschläge"
Die Bundesärztekammer bezeichnete die Vorschläge der Bertelsmann Stiftung als befremdlich. "In Ballungsgebieten mit erhöhter Krankenhausdichte kann es durchaus sinnvoll sein, dass Ärzte und Pflegepersonal in größeren Strukturen Patienten behandeln", erklärte Präsident Klaus Reinhardt. Gerade im ländlichen Raum aber müsse die flächendeckende Versorgung der Patienten sichergestellt werden.
Wichtig sei deshalb auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Medizinern und Kliniken. "Wer auch immer mit welchen Ideen den Krankenhaussektor verändern will, muss dem grundgesetzlichen Auftrag der Daseinsvorsorge, der Gleichheit der Lebensverhältnisse und dem Feuerwehrwehr-Prinzip der Krankenhäuser im Katastrophenfall gerecht werden."
"Alle Patienten müssen gut behandelt werden"
Vor einem Kahlschlag warnt auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz. "Es geht nicht immer nur um komplizierte Operationen mit Maximalversorgung", sagte Vorstand Eugen Brysch. Vielmehr müssten auch die Patienten gut behandelt werden, die keine Maximaltherapie benötigen und dennoch ins Krankenhaus gehen müssen. Zu dieser Gruppe gehörten besonders alte, pflegebedürftige und chronisch kranke Menschen. "Schließlich machen die schon heute mehr als 60 Prozent der Krankenhauspatienten aus."