DOMRADIO.DE: Ein Kommentar in der britischen Zeitung "The Guardian" fordert Christen auf den britischen Inseln auf, ihre Stimme gegen die "fremdenfeindliche Politik" Johnsons zu erheben. Was sagen denn die Christen in Ihrem Umfeld dazu? Wie stehen sie zu Johnson?
Andreas Blum (Pfarrer in der deutschsprachigen Gemeinde in London): Es gibt Christen auf beiden Seiten. Es ist eigentlich eine politische Frage und keine religiöse Frage. Da sich Boris Johnson so klar für den Brexit ausgesprochen hat, sind diejenigen auf der christlichen Seite, die auch für den Brexit sind, durchaus mit ihm als Premierminister einverstanden. Wohingegen die, die den Brexit schon immer kritisiert haben, in ihm natürlich eine große Gefahr sehen.
DOMRADIO.DE: Es gibt Populismus-Vorwürfe gegen Johnson. Er steht im Moment zum Beispiel wegen mutmaßlicher Lügen und Unwahrheiten während seiner Brexit-Kampagne vor Gericht. Kann man ihn ein bisschen mit Trump vergleichen?
Blum: Ich glaube, das ist zu oberflächlich und zu simpel gesehen. Man darf nicht vergessen, dass Boris Johnson durchaus ein hochintelligenter Mann ist, den man vielleicht auch eher an seinen Taten als an seinen Worten oder Auftritten beurteilen sollte. Schließlich ist er zweimal zum Oberbürgermeister von London gewählt worden, einer Stadt, die kein sicheres Terrain für die Konservativen ist. In seiner Zeit sind viele Entscheidungen gefallen, die den öffentlichen Personennahverkehr betreffen und es wurden auch die Olympischen Spiele nach London vergeben. Das sind durchaus Dinge, die in der ganzen Nation als erfolgreich gewertet wurden. Man muss schon sagen, da ist ein bisschen mehr hinter diesem Mann, als es die Karikatur manchmal vermuten lässt.
DOMRADIO.DE: Wie sehen die Menschen in London Boris Johnson?
Blum: Ich glaube, er kommt nicht so einfältig oder eindimensional daher, sondern ist eher ein sehr charismatischer Mensch. Andere Menschen würden dagegen sagen, er ist populistisch. Er ist aber auch in der Lage, verschiedene Strömungen aufzunehmen und pragmatisch umzusetzen. Ein Dogmatiker in dem Sinne ist er aber nicht.
Was jetzt noch einmal spannend wird und die meisten Menschen umtreibt, ist natürlich die Frage des Brexits. Er hat eine eindeutige Stellung bezogen. Wie er das jetzt hinkriegen will, das wird die spannende Frage in den nächsten Wochen und Monaten.
DOMRADIO.DE: Weil er auf der einen Seite sagt, der Brexit ist für mich kein Problem – aber auf der anderen Seite sich für einen Freihandel mit der EU einsetzt. Geht das überhaupt zusammen?
Blum: Dass es Auswirkungen geben wird, ist glaube ich allen klar. Es geht darum, diese Auswirkungen zu begrenzen, auf ein Maß, dass die Lebensverhältnisse hier nicht allzu sehr eingeschränkt werden.
Vor allem auch auf die Zukunft hin, wenn man mal auf die weltpolitische Lage schaut, sollte es ein gutes Miteinander mit der Europäischen Union geben. Weil weder Großbritannien, noch die EU alleine so stark auftreten können, wie eben gemeinsam.
DOMRADIO.DE: Der EU-Austritt wurde auf Ende Oktober verschoben. In Ihrer Gemeinde leben hauptsächlich Deutsche als EU-Bürger in Großbritannien. Wie blicken sie auf die kommenden Monate?
Blum: Klarheit ist das, was wir jetzt brauchen, damit wir wissen, wie es eigentlich weitergeht. Es gibt viele Gemeindemitglieder, die inzwischen die britische Staatsbürgerschaft beantragt haben. Es gibt andere, die zum Teil auch jobbedingt wieder auf das Festland gezogen sind. Aber für alle, die bleiben, muss geklärt werden, was zu tun ist. Welchen Status müssen wir hier beantragen? Wie sieht die rechtliche Lage aus?
Selbst Boris Johnson hat als eines der ersten Dinge festgelegt, dass alle EU-Bürger, die im Land sind, nichts zu befürchten hätten. Er meinte, alles soll gewahrt bleiben, vom Aufenthaltsrecht bis zu allen anderen Rechten. Das beruhigt uns natürlich, aber solange das nicht endgültig in trockenen Tüchern und auch gesetzlich festgelegt ist, bleibt natürlich eine gewisse Unsicherheit.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.