DOMRADIO.DE: Am Donnerstag hat das Parlament entschieden, die EU um eine Verlängerung der Frist zu bitten. Die Frage ist, wie lange soll die Frist sein und wie spielt die EU da mit? Was meinen Sie, worauf könnte das hinauslaufen?
Prof. Dr. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt): Die Gefechtslage ist in der Tat extrem unübersichtlich. Es gibt erhebliche rechtliche Probleme, die dagegen sprechen, dass die Verlängerung über den 30. Juni hinausgehen wird. Meine Vermutung ist, dass eine Verlängerung nur bis zum 30. Juni gehen kann. Ich halte es für am wahrscheinlichsten, dass die Europäische Union dem zustimmen wird.
Aber wenn die Briten überhaupt nicht sagen, was sie mit dieser gewonnenen Zeit anfangen wollen, kann es auch sein, dass man sagt: Wir wollen das nicht mehr zu ertragende Spiel nicht nochmal um drei Monate verlängern, um dann am 30. Juni in der gleichen Situation zu sein wie heute. Und deswegen werden wir euch jetzt vor die Wahl stellen: Entweder ihr entscheidet über diesen Vertrag oder ihr geht am 29. März ohne Vertrag aus der EU. Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass auch das passieren könnte.
DOMRADIO.DE: Sie haben es angedeutet. Es stellt sich die Frage: Ist das überhaupt sinnvoll, den Brexit nochmal zu verschieben oder sollten wir endlich einen Schlussstrich ziehen? Schließlich stehen ja Ende Mai die Europawahlen ins Haus und die machen das Ganze richtig kompliziert, oder?
Schieren: Die machen das richtig kompliziert, weil man nicht auf die Wahlen verzichten kann. Das wäre eine Vertragsverletzung. In Großbritannien wird allerdings auch gefürchtet, dass man in einen Europa-Wahlkampf gehen muss, indem man den Leuten erklären muss, was da passiert ist. Außerdem hat die Wahlkommission schon gesagt, dass die Vorbereitung einer solchen Wahl zu lange in Anspruch nehmen wird, dass das noch vernünftig laufen kann. Und insofern halte ich es für unwahrscheinlich, dass man über diesen 30. Juni hinausgehen wird.
DOMRADIO.DE: Ende nächster Woche steht auch noch ein EU-Gipfel an. EU-Ratspräsident Tusk hat angekündigt, dass er einen Konsens will. Er werde an die 27 EU-Staaten appellieren, für eine lange Verlängerung offen zu sein, wenn Großbritannien es für nötig hält, seine Brexit-Strategie zu überdenken. Das widerspricht ja ein bisschen dem, was Sie gerade gesagt haben.
Schieren: Ja, das ist richtig. Das ist aber auch für Europa nicht untypisch, dass man tatsächlich den Konsens versucht. Europa ist immer auf Konsens ausgerichtet. Aber es kann auch sein, dass es sich hier um politische Botschaften handelt oder sogar um eine Drohung, die als Angebot verkleidet ist. Eine derart lange Fristverlängerung ist gerade für diejenigen, die Theresa May das Leben am schwersten machen, den Brexiteers, eine absolut nicht zu ziehende Karte. Die wollen auf keinen Fall eine derartige Verlängerung.
Und wenn man von Europa aus signalisiert, das könnten wir uns auch durchaus vorstellen, dann könnte auch das Kalkül sein, dass dann diese harten Brexiteers sagen: Bevor wir jetzt riskieren, dass durch eine derartige Verlängerung alles abgeblasen wird oder sozusagen gar kein richtiger Brexit passiert, dann wollen wir doch lieber dem Vertrag zustimmen. Insofern ist in diesem Spiel, in dem es viel um Taktik und Strategie geht, nicht immer auch sichergestellt, dass das, was gesagt wird, auch gemeint ist, sondern ganz andere Zwecke damit verbunden sind.
DOMRADIO.DE: So scheint es ja auch bei Theresa May selbst. May hat schon zwei heftige Niederlagen für ihren Brexit-Vertrag eingefahren, will ihn aber offenbar genau so, wie er schon vorher im Parlament war, noch ein drittes Mal vorlegen. Das klingt total verrückt.
Schieren: Es ist total verrückt. Es ist aber nichts anderes als das, was schon im Dezember - wo es abgesagt worden ist - im Januar und auch jetzt vor kurzem passiert ist: Theresa May möchte das Parlament in den Abgrund schauen lassen und das Parlament muss dann entscheiden. Es muss entweder für diesen No-Deal, gegen diesen Vertrag, stimmen und den No-Deal-Brexit riskieren oder aber die für viele große Kröte schlucken, das heißt lieber diese zweite oder drittbeste Lösung als die schlechteste Lösung zu wählen. Das ist ein sehr, sehr riskantes Spiel. Und nachdem die beiden Niederlagen doch sehr deutlich und eindeutig ausgefallen sind, befürchte ich, dass dieses Spiel nicht aufgehen wird und man letztendlich genau da landet, wo keiner landen wollte: nämlich beim No-Deal-Brexit.
DOMRADIO.DE: Noch eine weitere Option war ja im Gespräch, aber da hat das Parlament auch wieder ganz klar "Nein" gesagt: nämlich die Option, doch nochmal ein zweites Referendum auszuloben. Ist das zweite Referendum damit endgültig vom Tisch?
Schieren: Nein, es ist nicht endgültig vom Tisch. Dieses zweite Referendum bräuchte enorm viel Zeit. Das wäre einer dieser Gründe, weshalb man in London, in Brüssel oder Straßburg einer Verlängerung zustimmen würde. Das Referendum benötigt die Mehrheit im Parlament, ein Gesetz, und das hat es nicht gegeben. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass es dazu kommen wird. Möglich ist es, aber unwahrscheinlich, weil auch diejenigen, deren Ziel ist, den Brexit zu verhindern, natürlich immer schauen müssen, was im Wahlkreis passiert ist. Man muss dazu wissen, dass 2016 ungefähr 40 Prozent der Wahlkreise gegen den Brexit, aber 60 Prozent für ihn gestimmt hat.
Und wenn ein Abgeordneter eigentlich gegen den Ausstieg ist, aber aus einem Wahlkreis kommt, der für den Brexit gestimmt hat, dann ist er natürlich hin- und hergerissen. Es gibt viele, die sagen, dass ein zweites Referendum bedeuten würde, dass der Wählerwille von 2016 verfälscht wird und man damit die demokratischen Prinzipien verrät. Es gibt viele Gründe, weswegen Abgeordnete dem zweiten Referendum dann doch nicht zustimmen. Nachdem das vor einiger Zeit relativ deutlich gescheitert ist, halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass das zweite Referendum kommt. Ausgeschlossen ist es nicht.
Das Interview führte Hilde Regeniter.