Wie der Mauerbau 1961 eine Kirchengemeinde trennte

Eine Teilung, die nach wie vor präsent ist

Der Mauerbau 1961 war ein einschneidendes Erlebnis. Auch für die Kirchengemeinde St. Michael in Berlin, die getrennt wurde – und bis heute nicht richtig zusammen gefunden hat. Politische Instrumentalisierungen, wie von der AfD, verurteilt die Gemeinde deshalb scharf.

Berliner Mauer (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Sie waren am 13. August 1961 10 Jahre alt. Was haben Sie für eine Erinnerung an den Tag?

Thomas Motter (Vorsitzender des Fördervereins zur Erhaltung der Katholischen Kirche St. Michael, Berlin-Mitte e.V.): Es war ein Sonntag und wir sind früh aufgestanden. Wir wohnten genau an der Sektorengrenze, dort war also Stacheldraht ausgerollt, Polizeikampfgruppen waren aufmarschiert, sodass alles dicht war. Am Michael-Kirchplatz, wo die Leute aus der Gemeinde zur ersten Messe wollten, war kein Durchkommen mehr.

Nachher hat dann einer der Kapläne mit den Grenzsoldaten verhandelt, sodass zu den anschließenden Gottesdiensten die Menschen doch wieder rüber konnten. Sie waren dann letztmalig in ihrer Pfarrkirche und mussten an gleichen Sonntag natürlich wieder zurück. Die Menschen konnten dann 28 Jahre nicht mehr in ihre Kirche, nur ab und zu mal durch Besuche.

DOMRADIO.DE: Was bedeutet das für eine Gemeinde? Das ist ja eigentlich unvorstellbar, dass es dann ja im Prinzip zwei unabhängige Gemeinden gegeben hat.

Motter: Wir waren in der glücklichen Lage, dass wir die Pfarrkirche hatten. Die Kreuzberger standen ohne alles da. Bei uns war es dann so, dass verschiedene Sachen weggefallen sind und sämtliche Vereine, die es in der Gemeinde gab, wurden natürlich stark reduziert. Sie wurden hier im Osten teilweise aufgelöst. Die Kapläne, die wir hatten, wurden folglich abgezogen. Wir hatten also nur noch einen Pfarrer hier, weil die Gemeinde ja nur noch im Osten ungefähr 1000 Mitglieder hatte. Die Umstellung war schon heftig.

DOMRADIO.DE: Wie schafft man es, dann Kontakt zu halten zum anderen Teil?

Motter: Zuerst schon, wobei der Kontakt dann doch relativ schnell sehr nachgelassen hat, abgesehen natürlich von den familiären Verbindungen. Aber der Kontakt der Gemeinde zueinander war dann doch recht spärlich.

DOMRADIO.DE: Daraus haben sich demnach zwei komplett unabhängige Gemeindeteile im Osten und Westen entwickelt?

Motter: Das ergab sich einfach aus den Umständen. Wir hier im Osten mussten natürlich sehen, dass wir unsere Leute ein bisschen zusammenhalten. Wir hatten dafür die Probleme mit Obdachlosigkeit und dem Abriss von Häusern nicht, die in Kreuzberg damals schon waren. Das war für uns nicht relevant. Die Westberliner Gemeinde hat sich natürlich auch Gott sei Dank darauf eingestellt.

DOMRADIO.DE: Wie war das für Sie als Kirchengemeinde in der DDR, dann noch direkt an der Grenze?

Motter: Wir hatten insofern Glück, als dass wir nie Grenzgebiet waren im eigentlichen Sinne, wo man also auch von Ostseite extra Passierscheine brauchte. Die Kirche war über die Jahre hinweg immer frei zugänglich. Wir konnten auch relativ ungestört das normale Gemeindeleben abhalten, also mit der Jugendgruppe, den Ministranten, dem Familienkreis und anderen Diensten, die nötig waren. Das war schon möglich, allerdings alles sehr klein und eingeschränkt.

DOMRADIO.DE: Sie haben das 28 Jahre so erlebt, wie Sie es beschreiben. Die Wiedervereinigung ist jetzt genauso lange, jetzt 30 Jahre her. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

Motter: Natürlich nach wie vor eine große Befriedigung darüber, dass es so gekommen ist. Es hat ja eigentlich so gut wie keiner damit gerechnet, dass wir das erleben. Wir sehen natürlich auch jetzt, das konnte man aber auch vorher ahnen, dass es alles nicht so glatt geht, wie man sich vielleicht gewünscht hätte. Wir sind im Großen und Ganzen sehr zufrieden.

DOMRADIO.DE: Das Happy End für die Gemeinde ist jedoch ein bisschen ausgeblieben, sie haben sich nicht wieder richtig vereinigen können.

Motter: Wir haben zwar sehr große Versuche unternommen – ich war damals auch Vorsitzender des Pfarrgemeinderates – und wir haben viele Sachen zusammen versucht und vieles zusammen gemacht. Letztendlich hat es aber nicht geklappt. Es ist jetzt allerdings so, dass wir bei der Neuordnung in den neuen Pastoralen Räumen wieder in der neuen großen Innenstadtgemeinde in Berlin zusammen kommen – also St. Michael Mitte und St. Michael Kreuzberg.

DOMRADIO.DE: In Brandenburg und Sachsen ist gerade Wahlkampf, die AfD macht bewusst Rhetorik und Wahlkampf mit der Rhetorik des Mauerfalls. Es gibt zum Beispiel Wahlplakate, die titeln "2019. Wende 2.0 – damals wie heute: Wir sind das Volk." Was denken Sie dazu?

Motter: Das ist ein bisschen unverschämt, muss ich mal sagen. Die Leute, die diesen Slogan 1989 zur friedlichen Revolution erfunden haben, die konnten natürlich schon davon ausgehen, dass hinter ihnen das Volk stand. Das waren ja Zehn- und Hunderttausende, die auf die Straße gegangen sind. Selbst wenn die AfD heute irgendwo über zehn Prozent liegt, heißt es immer, dass auf der anderen Seite noch um die 80 Prozent stehen, die damit nichts am Hut haben wollen.

Ich finde es ganz schön heftig, dass sie sich diesen Slogan einfach einverleiben. Sie haben ihn nicht erfunden und er ist abgesehen davon völlig daneben.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Die referenzierte Medienquelle fehlt und muss neu eingebettet werden.

Bau der Mauer / © UPI (dpa)
Bau der Mauer / © UPI ( dpa )
Quelle:
DR