DOMRADIO.DE: Die historische Selig- und Heiligsprechungs-Praxis ist eines Ihrer Forschungsgebiete. Wo liegen denn die Anfänge von Seligsprechungen?
Stefan Samerski (Außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte in München): Dass bestimmte Kandidaten heiliggesprochen wurden, passierte schon im frühen Mittelalter - zunächst auf regionaler Ebene, bis der Papst das Recht der Heiligsprechung im Jahr 993 für die Gesamtkirche übernahm. Damals wurde der Bischof Ulrich von Augsburg vom Papst als erster heiliggesprochen. Es war die erste Heiligsprechung für die Weltkirche.
Die Anfänge von Seligsprechungen liegen erst im 17. Jahrhundert. Damals wurde erstmalig zwischen der Selig- und Heiligsprechung differenziert und die Regeln für beide Verfahren festgelegt.
DOMRADIO.DE: Wie hat sich das Verfahren und auch die Bedeutung im Laufe der Jahre weiterentwickelt?
Samerski: Das Verfahren hat sich juristisch eigentlich im frühen Mittelalter herausgebildet. Man hat zunächst einmal das Leben des entsprechenden Kandidaten untersucht und das aufzeichnet. Es wurde überprüft, ob das auch wirklich ein vorbildliches Leben gewesen ist. Der eine oder andere hat sicherlich auch Fehler gemacht. Das ist aber gar nicht das Kriterium für eine Heiligsprechung und später eine Seligsprechung. Es waren auch nur Menschen.
Aber es ging um die Vorbildhaftigkeit, dass man das sozusagen als Muster des christlichen Lebens den Gläubigen vor Augen halten kann. Das Prozessverfahren wurde dann im Mittelalter ausgeweitet und immer genauer und präziser. Man hat dann vor allen Dingen anhand von schriftlichen Aufzeichnungen untersucht, ob dieser Kandidat Wunder wirkte. Das ist insofern wichtig, dass man sagte: Dieser Kandidat steht vor Gott und kann Fürbitte für unsere menschlichen Nöte einlegen. Das Wunder wäre dann sozusagen der Nachweis, dass dieser Kandidat auch wirklich diese Wirkmacht hat.
Der nächste Punkt, der auch schon im frühen Mittelalter untersucht wurde, ist: Wer verehrt diesen Kandidaten? Gibt es überhaupt eine namhafte Verehrung und ist die Verehrung groß genug, jemanden selig- und heiligzusprechen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie konkrete Beispiele für besondere Meilensteine in der Kirchengeschichte im Hinblick auf Seligsprechungen?
Samerski: Es gibt da verschiedene Fälle. Denken wir an "santo subito"-Rufe der Menge nach dem Tod von Johannes Paul II. Das war ein Prozess, der relativ rasch gegangen ist, aber dennoch gründlich durchgeführt worden ist. Das "subito – sofort“, darauf hat sich die römische Kurie, die dafür zuständig ist, nicht eingelassen. Sondern man hat wirklich das ganze Material untersucht. Das ist natürlich bei einem relativ langen Pontifikat von etwas unter 30 Jahren sehr umfangreich. Aber das haben viele Leute sehr gründlich und in wenigen Jahren geschafft, sodass Johannes Paul II. recht schnell seliggesprochen wurde. Es gibt andere Kandidaten wie etwa Hildegard von Bingen, da hat es 800 Jahre gedauert, bis die Seligsprechung beziehungsweise die Heiligsprechung offiziell durch den Papst durchgeführt worden ist.
DOMRADIO.DE: Gab es denn auch mal spektakuläre oder auch umstrittene Seligsprechungen?
Samerski: Die gab es vielfach. Ich würde sogar aus meinem Kenntnisstand sagen: Jede Selig- und Heiligsprechung findet immer viele Befürworter, aber sicherlich auch einzelne Gegner. Denken Sie an den Seligsprechungsprozess von Pius XII., der ja noch nicht abgeschlossen ist. Da fehlt nur noch ein Wunder. Der Heroische Tugendgrad ist schon abgeschlossen. (Anmerk. d. Red.: Unter "Heroischer Tugendgrad" versteht die Kirche, dass der Kandidat die christlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in seinem Leben unter den damaligen Umständen in vorbildlicher Weise gelebt hat.)
Wenn Sie an die Neunziger denken: Die Seligsprechung und die anschließende Heiligsprechung des Gründers von Opus Dei hat damals wirklich für Furore gesorgt und weltweit große Protestaktionen hervorgerufen. Jede Selig- und Heiligsprechung hat auch immer ein gewisses Protestpotenzial.
DOMRADIO.DE: Wie schätzen Sie die heutige Bedeutung von Seligsprechungen ein?
Samerski: Ich halte das immer noch für wichtig. Vielleicht ist es außerhalb Europas noch wichtiger als hier bei uns, wo wir doch über einen großen Heiligenhimmel verfügen. Identifikationsfiguren sind immer ganz entscheidend.
Johannes Paul II. hat eigentlich damit im großen Stil angefangen, bei seinen pastoralen Reisen auch immer einen Heiligen im Gepäck zu haben. Er hat nach Möglichkeit einen Kandidaten des Landes heiliggesprochen. Das ist immer ganz wichtig, um das eigene Kirchentum zu fördern, die Identifizierung mit einem "Mitbürger" dieses Landes zu befördern. Mit einer Selig- und Heiligsprechung kann man Ländern und Menschen in der Kirche in Afrika, Ozeanien, und Lateinamerika einen besonderen Stellenwert geben und sie durch eine Selig- und Heiligsprechung auszeichnen.
Das Interview führte Dagmar Peters.