DOMRADIO.DE: Zunächst zu Ihrer Beziehung zur DDR: Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeit?
Pater Bernhard Venzke (Pfarrer der Gemeinde St. Albert in Leipzig und Rundfunkbeauftragter des Bistums Dresden-Meißen): Oh, die ist ganz unterschiedlich. Auf der einen Seite habe ich eine sehr gute Familie gehabt, zum Teil auch gute Lehrer. Aber es gab andererseits auch Repressalien. Als ich mich entschieden hatte, die Waffe zu verweigern, hatten sich sämtliche Studienwünsche erledigt. Also insgesamt ist es ambivalent, würde ich sagen.
Es ist natürlich meine Heimat, beziehungsweise war 30 Jahre lang meine Heimat. Das hat mich sehr geprägt, auch hinsichtlich der Veränderungen. Ich bin an der Grenze groß geworden, in der Nähe von Halberstadt. Wenn ich heute noch Schilder wie Goslar lese, erfüllt mich immer noch große Dankbarkeit.
DOMRADIO.DE: Dann haben Sie natürlich die Wende mitbekommen, waren aber nicht Mann der ersten Stunde, wenn es um die Proteste gegen das DDR-Regime geht, oder?
Venzke: Nein, das war ich nicht, also zumindest was Leipzig anging. In der Schule gab es schon politischen Knatsch, weil ich aktiver Christ war und die Waffe verweigert habe. In Leipzig wollte ich nicht mitmachen, weil ich aufgrund meiner persönlichen und familiären Erfahrungen keine Lust auf die Stasi hatte.
DOMRADIO.DE: Was hat denn dazu geführt, dass sich am 9. Oktober 1989 die Menschen getraut haben, diese Montagsdemonstrationen zu machen und sich öffentlich gegen das System auflehnten?
Venzke: Naja, die Friedensgebete sind ja weitaus älter. Es hat ja auch schon Wochen vorher immer wieder Demonstrationen gegeben. Am 2. Oktober zum Beispiel war ich in der Nikolaikirche. Der Ruf "Wir sind das Volk!" ist quasi beim dieser Demonstration entstanden. Bis zum 9. Oktober gab es immer zwei Parolen, nämlich "Wir wollen raus!" und "Wir bleiben hier!". Und wenn, dann war ich bei der zweiten Gruppe dabei.
DOMRADIO.DE: Blicken wir zurück auf diese Tage Anfang Oktober vor 30 Jahren: Welche Gefühle haben Sie? Hätten Sie damals wirklich gedacht, dass das die Wende bringt?
Venzke: Ich habe gehofft, dass wir ein offeneres Land werden. Von der deutschen Einheit war ich weit entfernt. Wie gesagt, ich bin 30 Jahre in diesem System groß geworden. Viele von uns wollten einfach mehr Demokratie, Offenheit und Ähnliches. Das war unsere große Hoffnung. Aber wir hatten natürlich auch entsprechende Ängste, wenn Egon Krenz zum Beispiel den "Platz des himmlischen Friedens" gelobt hat und wie da das Militär gegen das Volk vorging. Ich habe ja auch am 18. September in der Nikolaikirche gesagt: "Ich bin aus Feigheit bisher nicht hierhergekommen."
DOMRADIO.DE: Also gemischte Gefühle?
Venzke: Ja, das entbehrt ja jeder Erfahrung. Ich habe immer gesagt: "Wenn ein Ufo bei uns im Klostergarten gelandet wäre, ich hätte nicht so gestaunt."
DOMRADIO.DE: Sie haben in der Zeit als erster Katholik überhaupt in der reformierten Kirche in Leipzig gepredigt.
Venzke: Ja.
DOMRADIO.DE: Warum war das für Sie ein ganz besonderer Moment?
Venzke: Dass man zum zweiten Mal gebeten wurde, war schon eine schöne Sache. Es war insofern besonders, weil eine zweite Kirche aufgemacht werden musste, weil so viele Leute da waren. Das hat uns schon sehr beeindruckt. Zudem hat es mich auch sehr gefreut, dass reifere Leute dabei waren und dass es nicht nur junge Leute waren. Das war für mich ganz besonders, weil ich in der reformierten Kirche ganz alleine da vorne gestanden habe.
Das Interview führte Carsten Döpp.