DOMRADIO.DE: Sie sprechen von einer neuen Form der Christenvertreibung Erdogans. Wer genau ist betroffen?
Martin Lessenthin (Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte / IGFM): Es sind solche Christen betroffen, die nicht ursprünglich aus der Türkei stammen, sondern die seit zehn, manchmal 20 Jahren, und noch länger mit ihren Familien in der Türkei leben, aktive Gemeindearbeit betreiben und auch missionarisch aktiv sind. Das sind vor allem Deutsche, aber auch Briten, Finnen, Amerikaner, Kanadier, Australier, Neuseeländer und Österreicher. Sie alle sind betroffen und leben an unterschiedlichen Orten in der Türkei, zum Beispiel in Istanbul, Ankara oder Izmir.
DOMRADIO.DE: Mit welchen Argumenten gehen Erdoğans Leute gegen diese Christen vor?
Lessenthin: Das Schlimme ist, öffentlich werden keine Argumente genannt. Nur alle diese Ausweisungen haben ein gemeinsames Merkmal: Es handelt sich um aktive Christen. Es gibt keinen anderen gemeinsamen Nenner. Sie bekommen quasi einen Stempel in ihre Personalpapiere eingeprägt. Das ist der sogenannte N 82, in einigen Fällen ist es auch der G 82-Code.
Dieser Eintrag bewirkt, dass eine Wiedereinreise in die Türkei nicht möglich ist. Das Problem ist übrigens auch dem Auswärtigen Amt, der deutschen Botschaft und den Konsulaten bekannt - auch die Breite des Problems. Allein in diesem Jahr sind 60 bis 70 Personen betroffen.
DOMRADIO.DE: Ist Religionsfreiheit in der türkischen Gesetzgebung nicht festgeschrieben?
Lessenthin: Absolut. Deswegen ist das Vorgehen der türkischen Behörden hier ja auch besonders absurd. In der Tat ist Religionsfreiheit gesetzlich garantiert, ja sogar missionarische Tätigkeit ist gesetzlich garantiert. Die Anschuldigungen gegen die Betroffene sind von daher nicht nur lächerlich und empörend, sondern sie sind auch gesetzwidrig.
DOMRADIO.DE: Und Sie fordern jetzt auch die Bundesregierung auf, sich in dieser Frage einzuschalten. Was genau erwarten Sie?
Lessenthin: Die verschiedenen Stellen, die hier zuständig sind, Botschaft, Konsulate, Auswärtiges Amt, sind bereits über diese Verfahren und diese Fälle informiert. Mit Verfahren meine ich, Rechtsaktivitäten, Klagen der Betroffenen gegen ihre Ausweisung. Die Gerichtsverhandlungen, die in den unterschiedlichen türkischen Städten stattfinden, sollten zum Beispiel von Mitgliedern der Mitarbeitern der Konsulate besucht und beobachtet werden, aber nicht nur von deutscher Seite, sondern, wenn zum Beispiel ein Brite betroffen ist, auch von britischer Seite.
Dann kommt es darauf an, dass Deutschland und die anderen Länder, aus denen Missionare stammen, die aus der Türkei ausgewiesen werden, sich gemeinsam im Protest erheben und dafür sorgen, dass die Türkei hier wieder zur Vernunft kommt.
DOMRADIO.DE: Das heißt, die ersten Schritte sind in der Tat schon eingeleitet?
Lessenthin: Von Seiten der Menschenrechtler und der Betroffenen. Schritte, die man schon als Anteilnahme und Interessenvertretung auf Seiten der deutschen Botschaft oder des Auswärtigen Amtes qualifizieren könnte, gibt es nach unserem Wissen bisher nicht. Dazu wäre auch notwendig, dass der deutsche Außenminister oder ein Vertreter des Auswärtigen Amts dieses Problem öffentlich anspricht.
In den vergangenen Wochen und Monaten gab es ja auch keine Scheu, zu dem Angriff auf Syrien Stellung zu nehmen. Da, denke ich, ist es auch normal, dass man zur Situation von Christen öffentlich Stellung nimmt, die eine deutsche Staatsbürgerschaft und Besitz, Familie, Kinder in Ausbildung in der Türkei haben. Man sollte zeigen, dass diese Menschen nicht egal sind und man sollte Herrn Erdoğan und die türkischen Behörden zur Ordnung rufen und eine Rückkehr vor allem zum türkischen Gesetz anmahnen.
Das Interview führte Carsten Döpp.