Caritas-Präsident Karam warnt vor Eskalation im Libanon

"Die Libanesen haben das Vertrauen in die Regierung verloren"

Der Libanon braucht Ruhe für seine innere Konsolidierung. Die Kirche könne nachvollziehen, warum die Libanesen das Vertrauen in ihre Regierung verloren hätten, sagt der Präsident der dortigen Caritas, Paul Karam, im Interview.

Proteste im Libanon / © Hussein Malla (dpa)
Proteste im Libanon / © Hussein Malla ( dpa )

KNA: Um die syrischen Flüchtlinge im Libanon ist es ruhiger geworden. Wie hat sich die Lage entwickelt?

Paul Karam (Präsident der libanesischen Caritas): Die Ruhe trügt. Die Krise dauert seit 2011 an und in Syrien hat sich nichts geändert. Das Regime ist geblieben. Den Preis zahlen Unschuldige, Frauen und Kinder. Das Ausmaß der Zerstörung ist immens. Der sogenannte Arabische Frühling war ein Desaster.

KNA: Und die Lage im Libanon?

Karam: Seit ich mein Amt als Caritas-Präsident im Libanon im April 2014 übernommen habe, hat sich die Situation immer weiter verschlechtert - für die Flüchtlinge, aber auch für Libanesen. Zum Beispiel stieg die Zahl der Libanesen unter der Armutsgrenze von etwa 6,5 Prozent auf 39,5 Prozent. Ganz ähnlich entwickelten sich die Arbeitslosenzahlen in den letzten acht Jahren. Wir haben uns daher entschieden, bei allen Projekten eine Mittelvergabe von 30 Prozent für die Aufnahmegesellschaft einzuführen. Dies wird seit Juni 2014 umgesetzt. Bei allem Mitgefühl, das die Libanesen zeigen, sind die Flüchtlinge eine große Bürde.

KNA: Sind diese Spannungen in der christlichen Gemeinde spürbar?

Karam: Als die Syrienkrise begann, hat der maronitische Patriarch, Kardinal Bechara Rai, trotz der schwierigen Geschichte des Libanon mit Syrien zur Hilfe für die Flüchtlinge aufgerufen. Die Antwort darauf aus unseren Pfarreien war großzügig. Aber mit jedem Jahr wachsen die Spannungen. Der Vorwurf lautet, dass den Syrern mit Geld von außen geholfen wird und alle Projekte für sie kostenlos sind, während die Einheimischen nichts kostenlos erhalten.

Die Spannungen haben sich in den vergangenen beiden Jahren noch zusätzlich verschärft. Die gesamte Gesellschaft fühlt sich inzwischen von der großen Zahl der Flüchtlinge überfordert. Die riesige Flüchtlingszahl im Verhältnis zur geringen Größe des Landes ist eine Fehlentwicklung, die die Regierung zu verantworten hat, aber auch die internationale Gemeinschaft.

KNA: Spielen die Flüchtlinge eine Rolle bei den gegenwärtigen Protesten im Land?

Karam: Alles hängt miteinander zusammen. Die Libanesen sind in ihrer Würde verletzt. Die Infrastruktur bricht zusammen, es gibt keine ausreichende Stromversorgung, und die 1,7 Millionen Flüchtlinge im Land sind eine zusätzliche Belastung. Die Libanesen haben das Gefühl, dass sich niemand um sie kümmert. Sie haben Angst, dass die syrischen Flüchtlinge die neuen Palästinenser werden, die seit Jahrzehnten als Flüchtlinge im Land leben. Die Spender reduzieren ihre Gelder. Es gibt bei ihnen eine Mentalität, nur in der akuten syrischen Krise zu helfen. Wenn die Krise vermeintlich beendet ist, endet auch die Hilfe.

Vergessen wird, dass die problematische Phase danach lange anhält. Und die Libanesen hatten nie Zeit, um Luft zu holen: Auf den Bürgerkrieg 1975 bis 1990 ging der Konflikt mit Israel weiter und mündete in den Krieg von 2006 mit seinen großen Zerstörungen. Dann begann 2011 der Syrienkrieg und verschärft wurde das Ganze durch die aktuelle Wirtschaftskrise.

KNA: Und jetzt?

Karam: Und jetzt rufen die Menschen "Genug!". Sie haben das Vertrauen in die Regierung verloren, und das ist in den Augen der Kirche nachvollziehbar. Als Kirche sind wir uns allerdings auch bewusst, was auf dem Spiel steht.

KNA: Nämlich?

Karam: Es darf nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri nicht so weitergehen wie nach dem Ende der Amtszeit von Präsident Michel Sleiman 2014, als es zu einer langen Vakanz und einem Machtvakuum kam. Wir dürfen nicht ins Chaos oder gar in einen weiteren Bürgerkrieg abgleiten. Straßenblockaden sind keine Lösung. Sie werden die schwierige Wirtschaftslage nur weiter verschlechtern.

Positiv ist, dass die protestierenden Menschen inzwischen über Religionsgrenzen hinweg und als Bürger denken. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie den Parteien nicht mehr trauen, weil sie für den libanesischen Konfessionalismus stehen, der die Macht seit der Unabhängigkeit entlang der Religionsgrenzen aufteilte.

KNA: Haben die Menschen nicht auch das Vertrauen in die Kirche verloren?

Karam: Das denke ich nicht! Es gibt sicher vereinzelt Kritik, aber die Menschen kommen und hören zu, sie suchen nach Führung und Rat.

Patriarch Rai hat, wie auch der Papst, zum Dialog aufgerufen und die Forderungen der Demonstranten nach einer unabhängigen Regierung unterstützt, die die nötigen Reformen vornehmen soll. Ich bleibe trotz aller Schwierigkeiten Optimist und denke, dass wir die Situation bewältigen können, solange es nicht zu Gewalt kommt.

Das Interview führte Andrea Krogmann.


Paul Karam, Präsident von Caritas Libanon / © Andrea Krogmann (KNA)
Paul Karam, Präsident von Caritas Libanon / © Andrea Krogmann ( KNA )
Quelle:
KNA