Apostolischer Vikar von Beirut fordert Vision für den Libanon

"Schaffen wir ein Ende der Korruption?"

Auch fast 30 Jahre nach seinem Ende lebt der libanesische Bürgerkrieg nach Einschätzung des Apostolischen Vikars von Beirut in den quasi-feudalistischen Strukturen des Landes weiter. Bischof Essayan sieht den Libanon als "Schlachtfeld internationaler Interessen".

Autor/in:
Andrea Krogmann
Straßenprotest in Beirut / © Andrea Krogmann (KNA)
Straßenprotest in Beirut / © Andrea Krogmann ( KNA )

KNA: Herr Bischof, der Libanon wird gern als Beispiel für die friedliche Koexistenz von Muslimen und Christen zitiert. Wie ist das Verhältnis zwischen den beiden Religionen heute?

Bischof Cesar​ Essayan (Apostolischen Vikars von Beirut​): Vor dem Bürgerkrieg (1975-1990) waren wir Libanesen, lebten und arbeiteten zusammen. Unsere Kinder besuchten dieselben Schulen und Universitäten. Das hat uns geholfen, einander zu kennen. Mit dem Bürgerkrieg sind Christen und Muslime geografisch voneinander getrennt worden, und das hat uns auch menschlich voneinander entfernt. Zwar gibt es in Beirut noch Universitäten, die von Christen und Muslimen gemeinsam besucht werden, sowie Schulen, die etwa durch Schüleraustausche die Öffnung füreinander fördern wollen. Aber bis dieser Prozess die gesamte Bevölkerung erfasst, braucht es viel Zeit. Die vielzitierten Worte von Papst Johannes Paul II., der Libanon sei eine Botschaft, sind eine Willenserklärung. Es ist aber ein langer Weg, bis sie wahr wird.

KNA: Über die Christen hört man einerseits, dass sie im Libanon so integriert sind wie kaum sonst in Nahost, andererseits hält die Abwanderung von Christen aus dem Land an. Wie steht es um die christliche Gemeinschaft im Libanon?

Essayan: Wir sind frei, unsere Religion auszuüben, das garantiert nicht nur die Verfassung, sondern ist in den Menschen selbst tief verankert. Probleme haben wir bei der Teilhabe im öffentlichen Leben. Zum einen haben Libanons Christen historisch nie die Mitarbeit im Staatswesen gesucht. Erst nach und nach ist uns bewusst geworden, dass diese Unterrepräsentation andernorts zu Problemen führen kann.

Der Versuch, Christen in öffentliche Positionen zu bringen, kollidiert einerseits mit dem Desinteresse der Christen, aber auch mit ihrer schwindenden Zahl. Wir kämpfen also sozusagen mit uns selbst um eine bessere christliche Präsenz. Ferner hat die bedeutendste christliche Position, die des Staatspräsidenten, durch das Taef-Abkommen nach dem Bürgerkrieg an Macht unter anderem an den Ministerpräsidenten verloren. Beides hat anderen Gruppen geholfen, ihre öffentliche Macht auszuweiten. Und schließlich: Der Bürgerkrieg ist zwar im Prinzip zu Ende. So lange aber dieselben Führer an der Spitze stehen, geht der Krieg verdeckt und im Kleinen weiter.

KNA: Das heißt?

Essayan: Der Libanon ist zwar eine Republik, trägt aber immer noch quasi-feudale Züge. Die Mächtigen des Bürgerkriegs sind dieselben neun, zehn Familien, die mittels der verschiedenen Parteien noch heute praktisch das ganze Land kontrollieren. Und sie teilen sich weite Teile der Güter des Landes. Jeder beschuldigt den jeweils anderen der Korruption - und keiner hat je etwas gegen Korruption unternommen. Der Feudalismus geht durch alle Konfessionen und Religionen, und die Familien koalieren, um andere am Emporkommen zu hindern und ihre Interessen zu sichern.

KNA: Ist dies der Hintergrund der Forderungen der Demonstranten nach einem kompletten Wechsel in der Führungsklasse?

Essayan: Definitiv! Es wäre naiv zu glauben, dass allein die angekündigten Steuern der Grund für den Volksaufstand waren.

KNA: Welche weiteren Gründe sehen Sie?

Essayan: Der Libanon ist ein Schlachtfeld internationaler Interessen, hier kreuzen sich Amerika, Saudi-Arabien, Israel auf der einen und Iran, Russland, Syrien und die Hisbollah auf der anderen Seite. Die Demonstrationen können von diesen Akteuren in diesem Sinne politisch genutzt werden.

KNA: Sehen Sie denn konkreten ausländischen Einfluss?

Essayan: Ich sehe ihn etwa in den Reden der Parteiführer. Und ob man will oder nicht: Revolutionen brauchen Geld, und von innen her gibt es dafür nicht genug. Die meisten Parteien sind vom Ausland finanziert, aber dafür erwarten sie natürlich Gegenleistungen. Der Libanon steht gewissermaßen im Sold dieser Länder, und eine Grundfrage wird es sein, ob wir es schaffen, ein unabhängiges Land zu werden oder ob wir nur die Herren austauschen. Schaffen wir ein Ende der Korruption?

KNA: Die Demonstranten fordern auch ein Ende des Konfessionalismus, wonach politische Ämter und Parlamentssitze nach einem genau festgelegten Proporz unter den Religionsgemeinschaften aufgeteilt werden.

Essayan: Die große Herausforderung ist, die religiöse und kulturelle Identität des Libanon zu erhalten und sich gleichzeitig einer gewissen Trennung von Religion und Staat zu öffnen. Zum Beispiel müssen wir eine Lösung finden für Menschen, die sich keiner der 18 Konfessionen zugehörig fühlen. Gleichzeitig müssen wir aber anerkennen, dass Religionen in einem so multireligiösen Land wie dem Libanon nun einmal eine politische Rolle spielen. Das Problem ist, dass wir Libanesen alle dieselben Pflichten haben, aber nicht dieselben Rechte. Wer kein Maronit ist, kann nicht Präsident werden. Das Wort Ministerium bedeutet Dienst – aber ab dem Moment, wo ein Ministerium nicht für alle zugänglich ist, wird es zur Macht.

KNA: Wie könnte eine Lösung aussehen?

Essayan: Das ist schwer zu sagen. Wenn man an einem Punkt ansetzt, besteht die Gefahr, das ganze Land in Brand zu setzen. Das bestehende System erlaubt es Christen und Muslimen immerhin, zusammen zu regieren. Daraus muss eine klare Vision für den Libanon entstehen.

KNA: Haben die Demonstranten eine solche Vision?

Essayan: Viele von ihnen schon, aber die Frage ist, ob sie damit die Identität des Landes bewahren können. Es braucht Weisheit, aber auch viel Vorsicht.

KNA: Sie haben ein "Sich-Einkaufen" ausländischer Kräfte in den Libanon kritisiert. Wie kann die internationale Gemeinschaft dem Libanon effektiver helfen?

Essayan: Wenn die internationale Gemeinschaft oder ausländische NGOs dem Libanon helfen können, dann nur, wenn sie nicht mit vorgefertigten Programmen ins Land kommen, sondern nach unseren eigenen Bedürfnissen fragen. Nehmen wir das Beispiel der Flüchtlinge. Viele profitieren von den Flüchtlingen. Gleichzeitig haben viele Organisationen aufgehört, sich für arme Libanesen einzusetzen. Ich verstehe die Intentionen der Spender, aber es muss für die Konsequenzen sensibilisiert werden. Wenn es keine Lösung für Syrien und eine Rückkehr der Flüchtlinge geben wird, wird es zu mehr Gewalt kommen.


Quelle:
KNA