DOMRADIO.DE: Pater Heinz, Sie haben zehn Jahre als Priester in Bolivien gelebt, kennen das Land gut. Sind Sie jetzt erleichtert, dass Evo Morales nun endlich die Macht losgelassen hat?
Pater Michael Heinz (Hauptgeschäftsführer des katholischen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat): Das kann ich eigentlich nicht sagen. Zwar hat er dadurch, dass er Wahlbetrug begangen und keinen geordneten Übergang geleistet hat, in den letzten Wochen das Land ins Chaos geschickt. Aber ich muss sagen, dass er doch in den 13 Jahren, in denen er Präsident war, viel für die indigene Bevölkerung und die Armen in Bolivien getan hat. Von daher ist es eigentlich schade, weil ich im Moment nicht sehe, wer sein Erbe antreten soll.
DOMRADIO.DE: Wie hat sich denn das Leben der Indigenen, der Armen im Land nach 13 Jahren Morales verändert?
Pater Heinz: Es gab in den Jahren, in denen er Präsident war, ein ständiges Wirtschaftswachstum. Das waren praktisch die zehn Jahre, die ich in Bolivien gelebt habe. Es ist schon bezeichnend, dass ein Präsident, der große Unternehmen verstaatlicht hat, dieses Geld dann auch den Armen zukommen lässt. Das hat sich zum Beispiel in der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen gezeigt, die dann zur Schule gehen konnten, aber auch von Frauen, die eine gewisse Elternzeit bekommen haben.
Es hat sich aber auch darin gezeigt, dass er sich sehr stark für die Arbeiter eingesetzt hat. Es wurde ein Mindestlohn bezahlt, der in den Jahren, in denen ich dort war, ständig angestiegen ist, manchmal um zehn bis 20 Prozent. Man kann heute davon sprechen, dass es ein Lohn ist, von dem die Arbeiter leben können. Damals, als ich 2007 nach Bolivien kam, sind das gerade einmal 80 Dollar im Monat gewesen. Das war zu viel zum Sterben und viel zu wenig zum Überleben. Von daher hat sich schon einiges in seiner Amtszeit getan, von dem ich sage, dass er positive Impulse gesetzt hat.
DOMRADIO.DE: Trotz all dieser Ansätze, welche kapitalen Fehler hat Morales denn begangen? Was hat er versäumt?
Pater Heinz: Ich glaube, er hat nicht genug gegen die Korruption getan, die es in Bolivien gibt. Er hat eher die Menschen unterstützt, die Koka anbauen. In Bolivien gibt es traditionelle Anbaugebiete. In Bolivien wird das Kokablatt gekaut und hat ähnlich wie bei uns die Coca Cola oder der Kaffee eine Aufputschwirkung. Es ist aber nicht so stark, wenn man nur das Kokablatt kaut. Aber es ist auch so, dass ein Großteil der Kokablätter zu Kokain weiterverarbeitet wird. Dagegen hat er nicht genug getan.
Und er hat es nach dem Referendum 2016, bei dem er abgewählt wurde, versäumt, auf die Menschen zu hören. Die haben ihm ganz klar gesagt: "Es kann so nicht weitergehen. Sie können nicht noch mal Präsident werden." Das hat er nicht anerkannt. Seitdem hat er im Land sehr viel politischen Gegenwind bekommen.
DOMRADIO.DE: Nach Morales' Rückzug haben die Bischöfe des Landes an alle Bürger appelliert, keine Gewaltakte zu begehen. Warum ist das nötig?
Pater Heinz: Das hat damit zu tun, dass es im Grunde genommen einen starken Konflikt zwischen den Menschen im Hochland und im Tiefland gibt. Dabei kann man grundsätzlich sagen, dass aus dem Tiefland die größte Zahl der Oppositionellen kommt.
Aber es ist auch deswegen notwendig, weil noch eine Bewegung, die sogenannte MAS (Movimiento al Socialismo), hinter Evo Morales steht. Das ist keine Partei, sondern eine relativ große Gruppe, die sich ihm angeschlossen und ihn auch zum Präsidenten hochgehievt hat. Von daher, denke ich, ist der Appell der Bischöfe gerade heute notwendig, wenn ich mir die nächsten Tage und Wochen anschaue. Hoffentlich kommt es zu einem friedlichen Übergang in Bolivien.
DOMRADIO.DE: Was muss denn passieren, damit die Fortschritte der Ära Morales erhalten bleiben und sich die Demokratie wieder erholen kann?
Pater Heinz: Da hoffe ich auf jeden Fall, dass, egal wer jetzt das Ruder übernimmt, ein hoher Wert auf Meinungsfreiheit gelegt wird. Das gilt auch für die demokratischen Werte, vor allen Dingen für die Gewaltenteilung, die in den letzten Jahren bei Evo Morales nicht gegeben waren.
Wichtig wäre auch, dass man ein offenes Parteiensystem in Bolivien angeht. Damit könnten sich für die Neuwahlen, die sicherlich in den nächsten Tagen ausgeschrieben werden, verschiedene Partei-Gruppierungen bilden und mit ihren Programmen an die Bevölkerung herantreten.
Das Interview führte Heike Sicconi.