DOMRADIO.DE: 1999 haben Sie Ihr Amt angetreten. Johannes Paul II. war Papst, Gerhard Schröder Kanzler und Kardinal Lehmann Vorsitzender der Bischofskonferenz. Was waren das für Zeiten?
Dr. Stefan Vesper (Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Ich glaube nicht, dass es eine gute alte Zeit war. Es war die Zeit der Kirche in diesem Jahrzehnt. Ich kam ins Amt, als es einen großen Konflikt gab, nämlich die Frage um die Schwangerschaftskonfliktberatung. Am 1. September 1999 habe ich angefangen, am 15. September waren die drei Kardinäle, unter anderem Kardinal Meisner, in Rom. Ich glaube am 24. September wurde sowohl der Ausstieg von Caritas und SKF verkündet, als auch Donum Vitae gegründet. Das war eine Zeit des Ringens um den richtigen Weg. Das Schmerzhafte dabei war, dass alle Beteiligten den Schutz des ungeborenen Lebens bestmöglich garantieren wollten, und man sich um den Weg gestritten hat. Es ging nicht um das Ziel.
Das war eine heiße Zeit. Wir standen vor dem ersten ökumenischen Kirchentag. Ich hatte viel zu tun und musste da rein kommen. Es war aber nicht unbedingt sehr viel ruhiger zu anderen Zeiten in diesen 20 Jahren. Es gab immer viel zu tun.
DOMRADIO.DE: Heute gibt es ja auch genügend Konflikte in der Kirche. Würden Sie sagen, die Auseinandersetzungen waren damals anders?
Vesper: Ich glaube, dass das Schema gleich geblieben ist. Es gibt eine Gruppe, die die Kirche als etwas versteht, das ohne Bewegung in der Zeit steht. Eine andere Bewegung sagt, die Kirche muss mit der Zeit gehen. Diese beiden Gruppen streiten sich nun seit Jahrzehnten, aber nicht nur in Deutschland. Bei uns kann man das damals an den Kardinälen gut beschreiben. Das gibt es aber auch weltweit. Diejenigen, die mit großer Sorge auf jede Veränderung schauen, und diejenigen, die mit großer Sorge darauf schauen, dass man glaubt, die Kirche müsse sich weder verändern noch mit der Zeit gehen; in dem Sinne, dass sie die Zeichen der Zeit erkennt und auch in ihr kirchliches Leben integriert.
DOMRADIO.DE: In Ihrer Anfangszeit hatten Sie noch mit Papst Johannes Paul II. zu tun. Wie haben Sie das erlebt?
Vesper: Er war für uns eine große und großartige Figur, die auch das ZdK übrigens gut kannte. Schon als Kardinal Woytila war er in gutem Kontakt, auch mit uns. Ich erinnere mich an seine Todesstunde. Da saß ich, wie viele andere auch, zu Hause und habe das vorm Fernsehen verfolgt. Ich war betroffen, getroffen und traurig. Der Schicksalswink war vielleicht, dass wir sehr früh schon eine Reise ausgemacht hatten im April 2005 nach Rom, sodass ich auf dem Petersplatz war, als das Habemus Papam verkündet wurde und wir Benedikt XVI. als Papst bekommen haben.
DOMRADIO.DE: Was denkt man in dem Moment? Sie hatten ja auch mit Kardinal Ratzinger schon vorher zu tun?
Vesper: Erstmal stand ich, wie viele andere auch, mehrmals da. Man hat ja jeden Tag morgens und abends gedacht: Kommt jetzt weißer Rauch? Oder doch nicht? Ich war aber in dem Moment dann auch da. Nachher haben alle gesagt. Es musste ja so kommen. Vorher, wenn man da steht, und wenn das Konklave ist, wird natürlich spekuliert. Geht es in diese oder jene Richtung? Nachher denkt man sich: War doch selbstverständlich, dass nach diesem Jahrhundertpapst seine rechte Hand Papst werden wird, die für Kontinuität sorgen kann. Für mich war das aber überhaupt nicht erahnbar, weil wir dachten: Ein Deutscher wird da nicht kommen.
DOMRADIO.DE: Warum kein Deutscher?
Vesper: Die Kirche in Deutschland hat in der Welt beides. Einen superguten Ruf, weil wir viel für die Weltkirche tun. Wir unterstützen viele Diözesen auf der ganzen Welt und viele soziale Projekte. Es gibt aber auch Vorbehalte. Die Deutschen wollen alles immer vormachen, die sind Musterknaben, die glauben in Deutschland wird die Kirche bewegt. Da muss man ganz ruhig bleiben und sagen: Ja, wir tun viel für die Weltkirche, aber wir sind uns bewusst, wir sind ein Teil einer großen Kirche, und das ist auch eine wunderbare Sache. Eine große Stärkung für unser Leben hier, dass wir nicht alleine sind, sondern Teil einer großen Gemeinschaft.
DOMRADIO.DE: Der wahrscheinlich historischste Moment Ihrer Amtszeit war sicher der Rücktritt Papst Benedikts XVI. Wie haben Sie den erlebt?
Vesper: Ich wusste sofort: Das ist ein historischer Tag. Damit verändert sich die Haltung der Kirche. Das Papstamt wird hier neu oder anders definiert. In einer Art und Weise, die meiner Meinung nach zukunftsfähig ist. Denken Sie sich Papst Benedikt müsste heute noch im Amt sein, mit 92 Jahren. Diese Belastung ist ja unfassbar. Physisch und psychisch, aber auch die systemische Belastung. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen, welche Bedeutung diese Belastung für den Menschen aus Fleisch und Blut hat, der dieses Amt inne hat. Man ist Identifikationsfigur, aber auch moralische Instanz weltweit. Jeder Fehler, jeder Halbsatz kann zu einer großen Schlagzeile werden. Das Amt ist eine unglaubliche Last. Für mich war klar: Hier sagt einer, es gibt Phasen des Lebens, wo man das nicht mehr machen kann, und dann tritt man zurück.
DOMRADIO.DE: Und dann kam Franziskus…
Vesper: Das war natürlich auch für uns eine große Überraschung: erstmals ein Papst aus dem Süden. Ich war zwar nicht in Rom, aber ich erinnere mich trotzdem noch an jede Minuten der Verkündung auf dem Petersplatz. Das war einfach ein Gänsehautmoment für uns, wie er die Menschen bat für ihn zu beten, und damit sofort eine Beziehung hergestellt hat. Auf seine Weise war das auch atemberaubend. Ich bin froh und glücklich jeden Tag über sein Wirken.
DOMRADIO.DE: Er plant aber in absehbarer Zeit keine Reise nach Deutschland. Was denken Sie als ZdK darüber?
Vesper: Das ist ein weltweites Amt. Der Papst kann gar nicht alle Länder besuchen, er sucht sich das ganz gezielt aus. Er kommt nicht, um Jubiläen zu feiern oder um etwas zu repräsentieren, sondern er geht dahin, wo sein Besuch eine besondere Aussage hat. Das muss man respektieren. Natürlich würden wir uns freuen, aber wir respektieren das.
DOMRADIO.DE: Die Kollegen der vatikanischen Medien in Rom sagen, dass ihr Leben komplizierter geworden sei, weil Franziskus einfach so unvorhersehbar sei...
Vesper: Dass er Unruhe nach Rom bringt ist gar nicht mal so schlecht. Wir haben schon immer gesagt, es muss reformiert werden, was in der Kurie systemisch, geschichtlich gewachsen ist. Unser früherer ZdK-Präsident Hans Meier hat vor 40 Jahren schon gefragt: Warum gibt es eigentlich im Vatikan keine wöchentlichen Kabinettssitzungen? Das ist ja ganz normal bei uns in NRW oder im Bund, damit die Minister sich miteinander austauschen können, auch wenn der Regierungschef die Endverantwortung hat. Es müsste eigentlich in Rom dialogischer regiert werden. Man müsste mehr voneinander wissen. Es darf nicht jeder einzeln zum Papst gehen und einzelne Beziehungen aufbauen und seine Themen alleine besprechen. Es gibt da auch heute noch einen Reformbedarf. Hoffentlich kann Franziskus mit seiner geplanten Kurienreform daran etwas ändern.
DOMRADIO.DE: Die Kurienreform ist das große Projekt von Papst Franziskus, und sie steht kurz vor dem Ende. Die Kritiker des Papstes werden im Moment aber auch immer lauter. Viele Reformideen sind schwer umzusetzen durch den großen Widerstand. In der ganzen Kirche wird die Spaltung immer tiefer. – Denken Sie, er kriegt das trotzdem hin?
Vesper: Papst Franziskus bewegt sich auf einer Straße mit zwei Gräben, rechts und links. Die einen sagen: er bringt alles durcheinander, es ist alles viel zu unsicher, was er da bringt. Die anderen sagen: Es ist nicht genug. Er müsste schneller und härter durchgreifen. Der Papst geht seinen Weg. Er stößt Diskurse an. Er bringt Veränderungsprozesse auf den Weg, aber nicht mit dem Schwert, sondern durch Diskussion, und den Aufbau von Vertrauen. Das zeichnet ihn aus.
DOMRADIO.DE: Eine wichtige Aufgabe des ZdK sind auch die Katholikentage, die Sie seit über 150 Jahren organisieren. Welche Bedeutung hat das für Sie?
Vesper: Die Katholikentage, die ich mitverantworten durfte, acht Stück waren das und zwei ökumenische Kirchentage, sind die größte Ausdrucksform der Arbeit des Zentralkomitees. Wir rufen alle zwei Jahre Menschen zusammen, aber immer in Absprache und auf Einladung des Bischofs und in Kooperation mit dem Bistum. Sie sind aber durch die Laien getragen. Das passiert also in einer guten Gemeinschaft. In der Regel kommen auch fast alle Bischöfe, und dazu 30.000, 40.000, dieses Jahr in Münster waren wir fast 90.000 Besucher. Das sind große Ereignisse, wo die Laien zeigen können, was sie der Gesellschaft anzubieten haben. Das ist quasi unser Slogan dazu. Wir nehmen Stellung zu Themen, die uns berühren, auch zu politischen Themen, wie Lebensschutz, Familie, Umwelt oder sozialen Fragen.
DOMRADIO.DE: Politik ist wichtig in ihrer Arbeit, da auch viele Politiker Mitglied im ZdK sind. Welche Rolle spielt diese Stimme in der Politik?
Vesper: Ludwig Windthorst hat im 19. Jahrhundert gesagt: Es ist nicht die Aufgabe der Christen am Rand des Spielfeldes zu sitzen, mit verschränkten Armen, sondern sie sind mitten in der Arena. Es ist nicht die Zeit, die Schlafmütze über den Kopf zu ziehen, hat er damals gesagt. Wir sagen auch heute: In allen politischen Themenfeldern braucht es den Einsatz und die Stimme der Christen, übrigens gemeinsam und ökumenisch. Wir von katholischer Seite wollen zum Beispiel bei der Verhinderung aktiver Sterbehilfe alles tun, was wir können. Wir haben auch eine wichtige Erklärung zur Suizidbeihilfe verfasst, die auch erfolgreich war. Es ist verboten in Deutschland für Suizidbeihilfe zu werben.
Ähnlich setzen wir uns für den Schutz des ungeborenen Lebens ein, wie für Frauen in Not. Auch der Respekt vor Behinderten ist uns wichtig. Auch vor Eltern, die ihr Kind durch die Jahre bringen und aufziehen, wenn es benachteiligt ist. Wir setzen uns für viele Dinge in der Gesellschaft ein, wo uns auch in der Krise viele Menschen sagen: Wir wollen nicht, dass die Stimme der katholischen Kirche verstummt.
DOMRADIO.DE: Ist die Bedeutung der katholischen Stimme in der Politik in Ihrer Amtszeit, den vergangenen 20 Jahren, zurückgegangen?
Vesper: Das ist eine schwierige Frage. Die Arbeitsformen ändern sich, der Alltag wird schnelllebiger, es ändern sich die gesellschaftlichen Parameter. Denken Sie nur an den Sonntag. Wir sind ganz entschieden der Meinung, die Gesellschaft braucht einen Tag der Ruhe. Sie braucht einen Tag der Besinnung und Erholung. Nun wissen wir alle, was am Sonntag inzwischen alles passiert. Es ist gut, dass die Geschäfte geschlossen haben, aber der Online-Handel blüht. Die Leute gehen zu den Tankstellen. Wir beharren drauf, dass der Sonntag eine Zeit ist, wo man mal rauskommen muss. Wir müssen also unter veränderten Bedingungen unser Zeugnis geben, unsere politischen Themen wach halten und unseren Einfluss geltend machen.
DOMRADIO.DE: Nun gehen Sie nach 20 Jahren in den Ruhestand. Die Kirche ist in der Umbruchphase und von Krisen geprägt. Wenn Sie in die Zukunft blicken, was macht Ihnen Hoffnung?
Vesper: Manchmal sage ich etwas schnodderig: Das Evangelium ist unkaputtbar. Wir leben aus einer Kraft, die zerstört werden kann. Die Grundfragen des Menschen, Fragen nach Tod, Leid und Glück, nach Sinn – die werden wach bleiben, so lange es Menschen gibt. Da haben wir Christinnen und Christen etwas anzubieten. Auch das muss man übrigens ökumenisch sehen, deshalb sind solche ökumenischen Kirchentage, wie wir sie jetzt auch wieder planen, sehr wichtig. Ich glaube, dass das Christentum eine Antwort auf die existenziellen Fragen der Menschheit hat, und deswegen auch eine Zukunft hat.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Das komplette Gespräch (28 min.) gibt es auch zum Nachhören.