Jetzt ist wieder die Zeit der Jahresrückblicke. Man kann die großen Ereignisse Revue passieren lassen, volkswirtschaftliche Bilanz ziehen, politische "To do"-Listen in erledigt und unerledigt sortieren, Machtgewinne und -verluste wichtiger Akteure analysieren, prominente Abgänge von der Bühne des öffentlichen Lebens betrauern. Ein jeder wird hier seinen spezifischen Zugang finden, zu einem eigenen Fazit gelangen und vielleicht so etwas wie eine Signatur des Jahres finden, die aus Vielem etwas Wesentliches auf den Punkt bringt.
Mich bewegt im Blick auf Gesellschaft, Staat und Kirche vor allem eine Sorge. Auch 2019 nahmen die Fliehkräfte aus der Mitte zu, hin zu verschärften, je radikaleren Positionen, die in rhetorischen Überbietungsversuchen ins Wort gebracht und im Netz in Dauerschleife 24/7 eingehämmert werden. Da wundert es nicht, dass im Parteiensystem das Gewicht der Ränder wuchs. In Thüringen kamen AfD und Linke zusammen sogar auf eine Mehrheit der Landtagsmandate. Selbst eine Viererkoalition der Parteien der rechten und linken Mitte – falls sie überhaupt kompromissfähig wäre – hätte keine Mehrheit mehr.
Das kann einen durchaus an das Los der "Weimarer Koalition" erinnern: Zentrumspartei, Sozialdemokraten und Linksliberale kamen in den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 auf 76 Prozent der Stimmen. Schon nach anderthalb Jahren verloren sie in den Reichstagswahlen die Mehrheit. Bei den letzten freien Wahlen im November 1932 waren es noch 33 Prozent, so viel wie die NSDAP alleine erhielt. Kurz darauf hielten die Nationalkonservativen ihr den Steigbügel zur Macht. Die Kommunisten waren fast so stark wie die SPD geworden.
Im Liberalismus gab es schon 1920 eine Verschiebung von Mitte-links nach Mitte-rechts (die DDP verlor zehn, die DVP gewann zehn Prozent); in der Endphase der Republik, als die Radikalisierung auch die wirtschaftsnahen Rechtsliberalen halbierte, war er bedeutungslos. Im katholischen Zentrum trommelte Baron von Papen gegen die "GroKo" im Reich und in Preußen für eine Rechtsfront, bis er im Juni 1932, als Kanzler von Hindenburgs Gnaden installiert, seinem Parteiausschluss durch Austritt zuvorkam.
Links- und Rechtsverschiebungen
Dass heute unter – derzeit noch – viel günstigeren ökonomischen, außenpolitischen und verfassungsrechtlichen Bedingungen ähnlich zentrifugale Tendenzen der Polarisierung und Radikalisierung um sich greifen, muss beunruhigen. Die SPD hat ihre Weimarer Schwindsucht mittlerweile sogar überboten (aber auch weil es die grüne Alternative gibt) und sucht ihr Heil im Linksruck. Die FDP, die 2017 im Bundestag noch unbedingt links der Unionsfraktion sitzen wollte, hat sich unter Herrn Lindner politisch rechts von ihr positioniert und ihre sozialliberalen Anteile marginalisiert. Die Union leidet unter der Wühlarbeit eines lauten, medienverhätschelten rechten Flügels, der zwischen einem FDP- und AfD-Kurs changiert und als Hauptfeind die Grünen statt die Rechtsradikalen betrachtet.
Der Weimarer Primat des "Antibolschewismus" mit den entsprechenden Bündnispräferenzen feiert in bürgerlichen Milieus fröhliche Urständ – interessenegoistisch, geschichtsvergessen, kurzsichtig, naiv. Um sich historischer Bedenken zu entledigen, etikettieren manche die NSDAP kurzerhand zur "linken" Partei um und plustern sich zu Widerstandskämpfern gegen eine angeblich sich einschleichende linke Diktatur auf. Wer sich nur "wehrt", darf in der Wahl der Mittel nicht zimperlich und in der der Verbündeten nicht skrupulös sein.
Der Diabolos, der große Verwirrer, Durcheinanderwerfer, Faktenverdreher und Verleumder erscheint heute so eifrig und erfolgreich wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Es sind keineswegs nur Dumme und Böse, die auf ihn hereinfallen. Auch dies ein Weimarer Déjà-vu. Nuntius Eugenio Pacelli sagte bei seiner Abschiedsansprache an die deutschen Bischöfe 1929 im Blick auf Hitler: "Ich müsste mich sehr, sehr täuschen, wenn dies hier ein gutes Ende nehmen sollte... Dieser Mensch geht über Leichen und tritt nieder, was ihm im Weg ist – ich kann nur nicht begreifen, dass selbst so viele von den Besten in Deutschland dies nicht sehen."
Polarisierungen in der Kirche
Wie so oft in der Geschichte verschont der – übrigens internationale – gesellschaftliche Trend die Kirche nicht. Der Verlust der Mitte und die Polarisierung bestimmen auch hier die Szene, angetrieben von Bildungsmangel, Gesinnungsegozentrik, Hybris und Ängsten. Auf der einen Seite suchen die bei uns schon lange dominierenden liberalen "Reformkatholiken" mit "Demokratisierung", "Weiberaufstand" unter fragwürdiger Beanspruchung der Gottesmutter, Fusionsökumene und anderen Angleichungen an die schneller schrumpfende Evangelische Kirche in Deutschland den finalen Durchmarsch.
Man will die historische Stunde eines schrecklichen Skandals, eines relativ reformfreudigen Pontifikats und eines verunsicherten, uneinigen Episkopats für eine Umgestaltung der Kirche nutzen, die jene des Konzils als ein Reförmchen erscheinen lassen würde – oft unbekümmert um die Theologie der Sakramente, die Einheit der Weltkirche und den Glauben vieler Generationen von Christen, die hinter der Tradition als einer "Demokratie der Toten" (Chesterton) stehen.
Auf der anderen Seite verhärten sich jene Wagenburgchristen, die stets auf "papsttreu" machten, doch nach der geistlichen Diagnose des aktuellen Pontifex nicht weniger der "spirituellen Weltlichkeit" anheim gefallen sind als sie es seit Papst Benedikts XVI. "Entweltlichungs"-Rede ihren liberalen Antipoden zuschreiben. Sie verbrauchen, so Franziskus in Evangelii Gaudium, "die Energien im Kontrollieren" und wollen "das Leben der Kirche in ein Museumsstück" verwandeln. Sie suchen – unbewusst – "den eigenen Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi". Dieser Katholikentyp sei "in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder Gefühle eingeschlossen". "Bestimmte Normen einhaltend", fühle er sich "den anderen überlegen" und pflege "eine vermeintliche doktrinelle oder disziplinarische Sicherheit, die Anlass gibt zu einem narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein"; "Da ist kein Eifer mehr für das Evangelium, sondern der unechte Genuss einer egozentrischen Selbstgefälligkeit".
Kein Wunder, dass hier am ehesten die AfD einen Fuß auf katholischen Boden bekommt. Manche reden schon genauso wie diese – was nicht nur sozialethisch eine Verdunkelung christlichen Zeugnisses bedeutet, sondern auch ein geistlicher Lackmustest ist. Nicht bestanden! Wo in Internetforen die Parole ausgegeben wird: Wir Konservativ-Rechtgläubigen "müssen die Fäuste oben behalten" oder von Begeisterung für die Kardinäle Sarah und Müller unter dem Titel "Vier Fäuste für ein Halleluja" geschwärmt wird, sollte man Heiligen Geist nicht vermuten. So degeneriert Kirche auf das Hooligan-Niveau rivalisierender Fußballfans, die dumpf für "das Eigene" gegen "das Fremde" kämpfen – übrigens auch die Zauberformel der identitären Neuen Rechten. Jesus findet man hier nicht.
Wie können wir Kultur zurückgewinnen?
Wie können wir die Verplumpung im Denken und Glauben stoppen? Wie dem Zerfall von Gesellschaft und Kirche in sich befehdende Stämme wehren? Wie Maß und Mitte, Kultur und Herzensbildung zurückgewinnen? Wie die geistliche Verflachung aufhalten? Dies sind nicht nur Fragen auch für den "synodalen Prozess", sondern für jeden einzelnen Christen und Bürger. Die Simplifizierung, Emotionalisierung und Entprofessionalisierung der Meinungsbildung im Internet – "Verbloggung führt auch zu Verblödung manchmal" (Kardinal Marx) –, die fragmentierenden und radikalisierenden Effekte der Sozialen Netzwerke, wird man nur schwerlich revidieren können. Dagegen müssen Anstrengungen zu klassischer Bildung – als "Wissen und Haltung" (Hermann Lübbe) –, schulische Medienerziehung, zivilisierter Dialog und analoge Begegnungen auf allen Ebenen gesetzt werden. Gegen Hassrede, Verleumdung, Verdrehung und Lüge auch strafrechtliche Normen, mediale Selbstverpflichtungen sowie Faktencheck- und Clearingstellen öffentlicher und privater Akteure.
Christen können bei sich selbst anfangen, indem sie den "Balken im eigenen Auge" (Mt 7,3) suchen und es in der Tugend der Demut für möglich halten, dass die Gaben der Weisheit, Einsicht und Erkenntnis nicht allein über sie und ihr Gesinnungslager ausgegossen wurden. Niemand sollte sicher sein, den "lieben Gott" schon in der Westentasche zu haben, sondern nach Ihm als dem Deus semper maior in Ehrfurcht vor dem Mysterium tasten. Dabei kann ein Prophetenwort helfen: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken" (Jes 55, 8-9).
Erst wenn wir uns neu bewusst machen, dass wir Lernbedürftige sind und immer bleiben, dass wir manipulierbarer sind als wir glauben, dass auch intelligente Menschen und fromme Christen historisch kapitalen Irrtümern erlagen, dass ein Zweifel rettend sein kann und Würde hat wie der Kompromiss, erst dann werden wir den Teufelskreis der Ideologisierung, Fanatisierung und Radikalisierung durchbrechen und wieder mehr verbinden können, als Spaltungen der Gesellschaft einfach nur rechthaberisch in der Kirche abzubilden. Dreht sich die Spirale der Verhärtung und Verhetzung aber weiter, dann könnten der kaltblütige Mord an dem Christdemokraten Walter Lübcke und das versuchte Massaker in der Synagoge von Halle mit zwei Mordopfern – für mich DIE Fanale des Jahres 2019 – nur der Anfang einer schrecklichen Eskalation der Verrohung sein.
Zum Autor: Dr. phil. Andreas Püttmann ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Er lebt in Bonn. Seine Themenschwerpunkte sind politische und ethische Grundsatzfragen, Religionssoziologie und Kirchenpolitik.