DOMRADIO.DE: Mittlerweile gibt es Missbrauchsbeauftragte, es gibt Runde Tische und Präventionsschulungen für Mitarbeiter. Wie beurteilen Sie die Entwicklung dieser letzten zehn Jahre?
Matthias Katsch (Gründer der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch"): Es ist eine ganze Menge in Bewegung geraten, aber wichtige Dinge sind noch nicht geschehen. Es hat zehn Jahre gedauert, bis wir an der Schwelle zu einer Vereinbarung zur unabhängigen Aufarbeitung in den Bistümern angekommen sind. Das ist eine Vereinbarung zwischen Kirche und Staat. Es hat auch zehn Jahre gedauert, bis wir in Gesprächen über Entschädigungen für die Opfer sind. Es ist also eine gemischte Bilanz: Die Anstrengungen, was die Prävention in vielen Einrichtungen betrifft, sind gut vorangekommen. In anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Aufarbeitung, ist noch nicht so viel passiert. Da müssen wir jetzt nachziehen.
DOMRADIO.DE: Die Entschädigung ist ein wichtiger Punkt. Da gibt es bestimmte Summen, die durch die Medien geistern. Was würden Sie sich da erhoffen?
Katsch: Ich habe an der Ausarbeitung dieser Empfehlungen mitgewirkt. Es geht dabei um Summen von 300.000 beziehungsweise den Rahmen von 40.000 bis 400.000 Euro. Die Empfehlungen wurden den Bischöfen im vergangenen Herbst in Fulda auf ihrer Vollversammlung vorgelegt. Diese sind von einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) erarbeitet worden. Die Empfehlungen mögen im ersten Moment etwas erschreckend wirken, weil man sich die Frage nach der Finanzierung stellt. Diese Forderungen sind aber sehr wohl begründet, da wir nicht nur die Taten in den Blick nehmen, sondern auch auf die Folgen in den Biografien der Opfer schauen. Das geht nicht einfach so weg, sondern begleitet die Opfer ein Leben lang. Deshalb ist eine Entschädigung angemessen.
DOMRADIO.DE: Wenn wir jetzt zurückschauen, sind es zehn Jahre. Damals haben unter anderem Sie gesagt, dass etwas gewaltig schiefgelaufen ist und dass Ihnen etwas passiert ist. Wie sind die Reaktionen auf diejenigen, die sich heute melden und sagen, dass sie Missbrauchsopfer von kirchlichen Würdenträgern geworden sind? Glauben Sie, dass man diesen Menschen heute anders begegnet?
Katsch: Es ist etwas besser geworden. Ich merke aber immer noch, dass viele Menschen eine instinktive Scheu haben oder eine Art Abwehr gegen das Thema. Man begegnet ihnen mit einem leichten Gruseln. Das ist so eklig und unangenehm, dass man sich das gar nicht näher vorstellen möchte und man wendet sich schnell ab. Das kann ich auch gut nachvollziehen, aber das hilft uns nicht, wenn wir versuchen wollen, dass es aufhört. Wenn wir möchten, dass Kinder beispielsweise heute besser geschützt sind, dann müssen wir hinhören, hinschauen und uns mit dem Thema beschäftigen. Daran arbeiten wir.
DOMRADIO.DE: Die Frage ist, ob es damals vor zehn Jahren, als es um Sie ging, geheißen hat "Das kann ja gar nicht sein, das denkst Du Dir nur aus", oder ob man da heute etwas anders reagiert?
Katsch: Das glaube ich schon. Es ist vorstellbarer geworden und nicht mehr der exotische Einzelfall. Man hat begriffen, dass das ein ganz weitverbreitetes Phänomen ist. Es existiert nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft, beispielsweise in der Familie. Dass die Menschen sich das besser vorstellen können, verdanken wir den Betroffenen, die - wie ich - 2010 angefangen haben darüber zu sprechen und denen zugehört wurde.
DOMRADIO.DE: Gibt es heute mehr Stellen, an die sich Missbrauchsopfer wenden können?
Katsch: Leider überhaupt nicht. Die Zahl der Beratungsstellen ist nicht größer geworden. Die Beratungsstellen klagen darüber, dass sie immer mehr Nachfragen bewältigen müssen. Die Ausstattung wurde nicht angepasst. Das müssen wir auf jeden Fall in den nächsten Jahren verbessern. Die Fachberatungsstellen machen eine sehr wichtige Arbeit, nicht nur für die Opfer, in der Prävention, sondern auch in der Beratung von Institutionen, die jetzt versuchen möchten Schutzkonzepte zu entwickeln. Sie brauchen endlich eine zuverlässige finanzielle Ausstattung und eine Planungssicherheit. Da müssen Länder, Kommunen und der Bund in den nächsten Jahren wesentlich mehr tun. Dazu war man bisher nicht in der Lage oder bereit.
DOMRADIO.DE: Es ist jetzt zehn Jahre her, dass dieser Stein ins Rollen gekommen ist. Waren das turbulente Jahre für Sie persönlich?
Katsch: Es gab einige Jahre lang eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, dies alles sei ein endloser Marsch durch die Instanzen, der uns nicht voranbringt. Die Aufmerksamkeit hatte zwischenzeitlich auch erheblich nachgelassen. Es brauchte viel Hartnäckigkeit und Geduld, daran zu glauben, dass wir mit unseren Forderungen durchdringen würden.
Nun ist mein Buch mit dem Titel "Damit es aufhört" erschienen. Da nimmt diese Phase, in der wir nicht sicher waren, ob wir Erfolg haben würden, einen breiten Raum ein. Wenn ich heute zurückschaue, hat sich diese Anstrengung gelohnt, weil ich glaube, dass ganz viele Menschen inzwischen begriffen haben, dass es nicht nur darum geht, in die Vergangenheit zurückzuschauen, so wichtig das auch ist. Das gehört natürlich zur Aufarbeitung.
Wir haben aber vor allem die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche heute sicherer aufwachsen, als wir das damals in den 1970ern und 1980ern konnten.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.