Der Gang ins Büro gehört nach wir vor zur Morgenroutine. Mit Hilfe von Rollator und Pflegerin hält Gottfried Böhm an der Gewohnheit eisern fest. Der international renommierte Architekt, dessen 100. Geburtstag am Donnerstag ansteht, kämpft sich über ein paar Stufen in das Haus im Kölner Stadtteil Marienburg und taucht in die Schaffenswelt seiner Familie ein.
Kirchen, Geschäftshäuser, Theater
Das Gebäude hatte sein Vater Dominikus - ebenfalls ein Architekt mit großem Namen - 1928 erbaut. Hier entfalten sich heute seine Söhne als Architekten. Gottfried Böhm kommt hier aber auch an das Zentrum seiner eigenen Kreativität. In der Nachkriegszeit hat er rund 60 Kirchen entworfen. Berühmt ist er auch wegen vieler anderer Architektur-Ikonen, darunter Verwaltungs- und Geschäftshäuser, das Potsdamer Theater, die Stadtbibliothek Ulm und ein Kinderdorf.
Zum Alltagsritual von Böhm gehört es, im verglasten Erker des Konferenzraums einen Kaffee zu trinken. Dort finden sich Souvenirs einer unverwechselbaren Architekten-Persönlichkeit. Eine Büste - von Böhm selbst gefertigt - stellt den Vater dar. Sohn Gottfried wollte mal Bildhauer werden, was sich in seinen ausgesprochen skulpturalen Bauten widerspiegelt.
Wallfahrtskirche Neviges spaltet die Gemüter
Augenfällig wird dies in einer großen Skizze an der Stirnwand. Sie stellt die 1968 fertiggestellte Wallfahrtskirche im rheinischen Neviges dar. Sie gilt als zentrales Werk Böhms, spaltet indes die Gemüter. Manch einer verspottet den Betonbau mit seinen verschachtelten Dachspitzen als Affenfelsen. Andere sprechen von einer brutalistischen Architektur - ein Begriff, mit dem Böhm nichts anfangen kann. "Ich möchte doch nicht als brutaler Mensch gelten." Den Bau in Neviges konstruierte er einst als großes Zelt für das "wandernde Volk Gottes". Im Inneren taucht der Besucher in ein mystisches Dunkel - auch bewirkt durch die vom Meister selbst gestalteten Farbfenster.
Experten attestieren Böhm "Mut zum Monument". Kennzeichen seiner Bauten aus Beton, Stahl und Glas sind eine kühne Statik mit Hängedächern, Bogenkonstruktionen, Kuben, Zylindern oder Kegeln. Typisch für Böhm ist die Rabitztechnik, bei der Gips oder Mörtel auf ein Drahtgewebe aufgetragen wird. Diese wendete er auch bei seinem Erstlingswerk an, um die geraffte Decke der ab 1947 errichteten Kapelle "Madonna in den Trümmern" in Köln zu gestalten.
"Madonna in den Trümmern" in Köln
Für Böhm hat dieses Projekt eine herausragende Bedeutung. Die achteckige Kapelle erhebt sich zwischen den Ruinen der kriegszerstörten Kirche Sankt Kolumba über einer spätgotischen Madonnen-Statue, die fast unversehrt geblieben ist und damit zum Symbol des Lebens wurde. Inzwischen ist das Achteck Teil des Kunstmuseums Kolumba, das Peter Zumthor auf dem ursprünglichen Kirchengrundriss errichtete. Die Integration in den Gesamtkomplex bedauert Böhm. "Es ist schade, dass die Kapelle völlig eingebaut und aus dem Stadtbild herausgenommen ist."
Ob Kapelle oder Felsendom - Böhm pflegte seinen besonderen Arbeitsstil. Neben drei von vier Söhnen war auch seine 2012 verstorbene Frau Elisabeth vom Fach. Im Familienkreis gab es "ein gegenseitiges Reinsteigern in Ideen", wie der Sohn Peter berichtet. Und das schloss "ziemlich schmerzhafte Situationen" nicht aus. Es kam vor, dass neben dem Entwurf aus der Feder der jungen Generation nach dem Mittagessen plötzlich eine sehr alternative Zeichnung des Seniors lag.
Junge Menschen ansprechen
Der jüngste Sohn Paul, Architekt der Kölner Zentralmoschee, erinnert an die von seinem Vater gepflegte "Familientechnik", von geplanten Gebäuden Kohlezeichnungen und Modelle mit Knetmasse zu erstellen. In einer Zeit ohne Computer ermöglichte das Plastilin, ein Detail einfach abzuschneiden oder anzufügen. "Mit den Händen denken", nennt der Filius dieses Kneten an Kirchen und anderen Projekten.
Als junger Mann hat Gottfried Böhm noch erlebt, "dass Kirchen immer zu klein waren". Heute dagegen werden Gotteshäuser aufgegeben. Ein Abriss einer seiner Kirchen würde ihm wehtun, mit einer Umnutzung könne er aber leben. Der Kirche heute empfiehlt der Hochbetagte, mehr die jungen Menschen anzusprechen. Und: "Eine Frau als Priester oder eine Päpstin - das muss kommen."