Himmelklar: Wir sind in einer Ausnahmesituation seit ungefähr sechs Wochen schon. Wir haben alle unseren Alltag umstellen müssen. Wie sieht es denn bei Ihnen in der Redaktion von der Tagesschau, den Tagesthemen und dem Nachtmagazin momentan aus?
Helge Fuhst (zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell): Bei uns ist fast nichts mehr so, wie es einmal war. Wir haben in allen Bereichen für die Tagesschau, für die Tagesthemen, genauso aber auch für den Onlinebereich und die verschiedenen Ausspielwege die Teams getrennt. Das heißt, wir haben sicherheitshalber an allen Stellen mindestens zwei Teams, für die Tagesschau sogar drei Teams, falls jemand sich infiziert mit dem Corona-Virus. So kann dann das andere Team übernehmen. Wenn wir alle in Quarantäne müssten, könnten wir nicht mehr senden. Da haben wir uns ganz neu aufgestellt und es ist für alle ganz anders. Das ist auch sichtbar. Bei uns sind Klebestreifen und Absperrbänder um die Arbeitsplätze herum in unserem Newsroom. Das hätten wir uns alle vorher nicht vorstellen können. Wir haben auch durchsichtige Plastikwände in der Regie neben dem Studio, wo die Sendung gefahren wird. Das sind alles Sachen, die wir innerhalb von wenigen Tagen organisieren mussten, um uns alle hier zu schützen.
HIMMELKLAR: Wie sieht so ein Studio selber aus? Ist da außer den Moderatoren noch jemand?
Fuhst: Im Studio haben wir zum Beispiel keine Gäste mehr von extern. Sonst haben wir versucht, immer auch Gesprächspartner in das Studio zu holen. So führt man am besten Gespräche, wenn man sich in die Augen gucken kann und wenn man nahe beieinander steht. Das geht jetzt alles nicht mehr. Normalerweise ist nur ein Moderator oder Sprecher bei der Tagesschau im Studio und das Maximale sind zwei abends bei den Tagesthemen - wenn Ingo Zamperoni oder Caren Miosga im Studio stehen und dann noch ein Sprecher oder eine Sprecherin für den Nachrichtenblock. Das ist das Maximale und die stehen da mit großem Abstand. Also im Studio selbst geht das.
HIMMELKLAR: Und bei den Reportern draußen gibt es dann den Plastiküberzug über das Mikro?
Fuhst: Ja genau, der ist schnell bekannt geworden, da haben wir auch viele Zuschriften von Zuschauern bekommen, die das beobachtet haben. Klar, an allen Stellen müssen wir gucken, dass wir den Abstand einhalten, dass die Sicherheit klappt, dass wir die Gesundheit sowohl der Mitarbeiter und der Reporter draußen erhalten als auch, dass wir die Leute, mit denen wir sprechen, nicht gefährden. Und deswegen werden viele Interviews draußen gemacht, alle natürlich mit dem Abstand. Am Schwierigsten ist es aber für viele der Auslandskorrespondenten, die beispielsweise in New York oder auch in London sind, wo wir die Bilder ja sehen aus den Städten und wie schwierig die Lage dort ist. Für die ist es wirklich sehr schwer geworden, rauszugehen und Geschichten zu drehen. Das ist in Deutschland noch etwas einfacher, zwar mit vielen Vorkehrungen, aber es ist grundsätzlich für uns möglich, Geschichten zu drehen.
HIMMELKLAR: Da stellt sich ja im Prinzip schon die größere Frage: Kann man überhaupt noch richtigen Journalismus machen, wenn man nicht mehr rausgehen und den Menschen begegnen kann?
Fuhst: Ja, richtigen Journalismus kann man auf jeden Fall machen, weil dazu brauchen wir Informationen und Fakten, die wir hinterfragen können. Das ist unsere tägliche Aufgabe, das kriegen wir hin. Aber es ist völlig richtig, alle Korrespondenten, alle Reporter, jeder Journalist hat natürlich im Blut, dass man rausgehen will, dass man selber Geschichten erleben will, dass man die Menschen treffen und darüber eine Geschichte erzählen will. Man möchte eine Geschichte erzählen und diese abbilden. Das geht im Moment eingeschränkt an vielen Stellen noch. Wir zeigen zum Beispiel bei den Tagesthemen in der Serie "Helden und Heldinnen des Alltags" jeden Abend eine Person, die es gerade nicht einfach hat in dem eigenen Job und trotzdem aber unsere Gesellschaft gerade zusammenhält und einen wichtigen Beitrag leistet in dieser Krise. Da gehen wir ja auch hin, treffen diese Person, aber mit dem nötigen Abstand.
HIMMELKLAR: Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt oder eine ganz wichtige Frage, positive Akzente zu setzen. In vielen Redaktionen wird jetzt diskutiert, wie viel Corona kann man machen und wie viel Corona ist zu viel. Was ist da Ihre Richtlinie?
Fuhst: Genau, wir haben auch immer wieder positive Beispiele, natürlich. Es gibt ja zum Glück genug kreative Ideen, wie die Leute mit der Krise umgehen. Wir haben ja jeden Tag viel zu Corona seit mindestens sieben Wochen. Ich glaube im Rückblick können wir aber klar sagen, dass es richtig war, Corona so viel im Programm zu haben. Das war über Wochen fast monothematisch, jetzt tauchen inzwischen auch andere Themen auf. Aber die Nachfrage war da. Das sehen wir. Nachdem in den letzten Jahren immer wieder behauptet wurde, das sei Lagerfeuerfernsehen. Das erlischt nun. Es ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das sehen wir abends bei der Tagesschau, bei den Tagesthemen, in den ARD-Extra-Sendungen, die wir zu Corona bieten. Da waren in der zweiten Märzhälfte beispielsweise 16 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer abends bei der 20-Uhr-Tagesschau dabei. Das war klassisch über das Fernsehen. Hinzu kommen auch die anderen Ausspielwege wie YouTube, wo die Sendung auch verbreitet wird. Das sind riesige Zahlen, die es seit Jahrzehnten so nicht gab. Also das Lagerfeuerfernsehen brennt so stark wie noch nie.
HIMMELKLAR: Sie sind ja die Informierer des Volkes, kann man fast schon sagen. Der gefühlte Super-GAU wäre ja, dass Sie selber in der Redaktion dicht machen müssen. Hat man Notfallpläne dafür, dass es keine Tagesschau mehr geben kann?
Fuhst: Ja, wir sehen es absolut als unsere Pflicht an, dass wir alles dafür tun müssen, dass wir so lange wie möglich in dieser Zeit senden können. Also auch, wenn wir hier positive Fälle im Haus haben und sich Kolleginnen und Kollegen an Corona infizieren. Wir hatten noch keinen positiven Fall, aber eines Tages wird das natürlich kommen. Dafür sind wir aber gut aufgestellt. Die Kolleginnen und Kollegen machen da eine großartige Arbeit, sowieso die Sendung im Moment, aber auch, dass sie ganz flexibel, wie es irgendwie nur geht, sich an diese Situation anpassen, damit wir die Sendung hinbekommen können. Dass wir irgendwann einmal gar nicht mehr senden können, wird hoffentlich nicht passieren. Eine Garantie gibt es nicht, aber das wird hoffentlich nicht passieren, weil wir für alles Back-Up-Pläne haben und verschiedene Modelle, auf wen wir wann und wo zurückgreifen. Auch, falls mal das Studio oder die Regie nicht mehr genutzt werden könnten, da werden wir hoffentlich so schnell keine Sendung ausfallen lassen müssen.
HIMMELKLAR: Als Tagesthemen wollen Sie ja ein möglichst breites Meinungsspektrum abdecken. Aber hat man nicht die Verantwortung, das Volk nicht zu sehr in Panik zu bringen, wenn man da zu viel Kritik und Verschwörungstheorien Platz gibt?
Fuhst: Wir bleiben sachlich, aber müssen schauen, welche Kritik gerechtfertigt ist und welche wir in die Sendung mit aufnehmen. Das Wichtigste ist, dass wir schauen, welche Sorgen und welche Meinungen es in der Gesellschaft gibt und dass wir diese Sorgen dann auch thematisieren. Ich finde, dass haben wir in den letzten Wochen sehr gut gemacht, auch wenn es in der Gesellschaft im Moment eine große Mehrheit gibt für diese Beschränkungen. Die meisten Menschen sehen im Moment, dass es notwendig ist, dass wir diese Einschränkungen haben im Leben. Diese sind schmerzhaft für ganz, ganz viele Menschen und trotzdem: Wenn es da so eine große Mehrheit gibt, müssen wir das als Journalisten tagtäglich hinterfragen. Wie lange sind diese Einschränkungen nötig? Da beteiligen wir uns nicht an der politischen Debatte. Das können die Politiker untereinander diskutieren. Wir sind Anwalt der Menschen und der Gesellschaft.
HIMMELKLAR: Wie gehen Sie persönlich mit der Lage um?
Fuhst: Ich bin Jahrgang 1984 und habe so etwas selbst noch nicht erlebt. Es gab für meine Generation noch keine Krise, die so direkt bei uns war, vor der Haustür, und uns alle betroffen hat. Der 11. September hat uns alle emotional betroffen, aber mit einer gewissen Distanz. Die Finanzkrise 2008/2009 war auch bei uns, aber die hat nicht jeden direkt betroffen. Dass wirklich so etwas uns alle betrifft und für uns alle eine Herausforderung ist, das gab es noch nicht. Jeder muss ja sein privates Leben managen und irgendwie auf die Reihe bekommen in dieser Situation. Für den einen ist es schwieriger, weil man Eltern hat, die man pflegen muss oder weil die Kinder noch im Ausland sind. Einige Kollegen haben ihre Kinder zurückgeholt. Das sind alles Herausforderungen, die wir so noch nicht hatten. Für mich ist es wirklich das erste Mal und das prägt sehr. Ich glaube, wir werden noch viele Jahre über das sprechen, was wir im Moment erleben.
HIMMELKLAR: Was bringt Ihnen Hoffnung in dieser Zeit?
Fuhst: Wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Es gibt einen großen Zusammenhalt und wir gehen alle kreativ an diese Situation heran. Ich hoffe, dass das noch lange so bleibt, weil ich fürchte, dass sich die Diskussion nach der ersten Krisenzeit verändern wird. Wir werden viel kontroverser in den nächsten Wochen und Monaten eine Debatte erleben in der Gesellschaft. Ist das alles so richtig gewesen und ist das jetzt richtig? Ich habe die Hoffnung, dass wir als Gesellschaft weiterhin gut diskutieren, auch streiten über das was gerade passiert und wie darauf reagiert wird, aber dass wir am Schluss trotzdem als Gesellschaft zusammenhalten. Das wäre mir sehr wichtig.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Hinweis:
Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch.