World Vision sieht Fortschritte aus 30 Jahren in Gefahr

"Wollen wir als Christen tatsächlich Erbsenzähler sein?"

Während Deutschland laut Kanzlerin Merkel die erste Phase der Pandemie hinter sich hat, geht es anderen Ländern gerade besonders schlecht. Die christliche Kinderhilfsorganisation World Vision stellt ein erschreckendes Szenario auf. 

Mann in Somalia trägt eine Atemschutzmaske / © Farah Abdi Warsameh (dpa)
Mann in Somalia trägt eine Atemschutzmaske / © Farah Abdi Warsameh ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie sehen durch die Corona-Pandemie die Fortschritte, die in der Armutsbekämpfung in den vergangenen 30 Jahren erzielt worden sind, in Gefahr. Welche sind das?

Dirk Bathe (Medienreferent bei World Vision): Es gibt tatsächlich diese Fortschritte. Zunächst kommt es uns oft so vor, als ob auf der Welt immer alles schlechter wird: mehr Kriege, mehr Armut. Aber das stimmt so nicht.

In einigen Bereichen sind deutliche Verbesserungen erzielt worden, zum Beispiel die Müttersterblichkeit ist fast halbiert worden. Es sterben auch weniger Kinder unter fünf Jahren. Das ist ein Problem, das uns über Jahrzehnte hinweg ganz stark beschäftigt hat. Die Zahl der extrem armen Menschen ist auch deutlich gesunken. Und diese Fortschritte könnten durch die Folgen der Corona-Krise tatsächlich komplett zunichte gemacht werden.

DOMRADIO.DE: Corona ist vor allen Dingen für ältere Menschen gefährlich. Warum sind in ärmeren und armen Staaten aber auch vor allem die Kinder bedroht?

Bathe: Ich bin kein Virologe, das muss ich vorausschicken. Aber es sieht ja tatsächlich so aus, dass die direkte Bedrohung durch das neuartige Coronavirus vor allem alte Menschen und alte Menschen mit Vorerkrankungen trifft.

Darin liegt aber auch eine gewisse Hoffnung für den afrikanischen Kontinent. Dessen Bevölkerung ist nämlich, im Vergleich zu Europa, sehr jung. Kinder leiden aber vor allen Dingen an den indirekten Folgen der Pandemie, zum Beispiel an den Folgen der Bekämpfung des Virus. Also das, was sich nicht durch das Coronavirus und dessen Bedrohung direkt entwickelt, sondern in der Folge der Maßnahmen, die zur Bekämpfung eingeführt worden sind.

Da sind zum Beispiel in armen Ländern viele Schulen geschlossen worden, es gibt Ausgangssperren und andere Beschränkungen. Das hat ganz harte Auswirkungen für die Kinder. Sie bekommen zum Beispiel ihre einzige warme Mahlzeit sehr häufig nur in Schulen bei den Schulspeisung. Und wenn die wegfallen, dann haben wir das Problem des Hungers, der bekämpft werden muss.

Das andere Problem ist, dass die Eltern kein Einkommen mehr haben, weil sie keine Arbeit mehr haben. Und die haben sie deswegen nicht, weil sie nicht vor die Tür gehen dürfen. Viele Tagelöhner sind auf Arbeit außerhalb des Zuhauses angewiesen.

In der Folge steigt dann die Armut rasant. Die knappen medizinischen Mittel konzentrieren sich dann vor allem auf Corona-Patienten, andere Kranke fallen hinten runter, zum Beispiel Menschen, die an Malaria erkranken.

DOMRADIO.DE: Sie wollen gegensteuern, und zwar mit einem millionenschweren Hilfsprogramm. Sie setzen da erstmal auf Nothilfe im Kampf gegen Covid-19. Wie sieht diese Hilfe aus?

Bathe: Das spielt sich vor allen Dingen auf drei Ebenen ab. Wir leisten zum einen direkte Nothilfe, etwa mit der Verteilung von Lebensmitteln, aber auch Hygienematerial, wie Seife. Wir bauen Handwaschstationen auf und ähnliches. Das ist die direkte erste Nothilfe.

Zum anderen verteilen wir Aufklärungsmaterial. Dann veranstalten wir Informationskampagnen, auch mit anderen zusammen, etwa mit religiösen Respektspersonen. Das nennt sich bei uns "Channels of Hope". Da haben wir schon in der Vergangenheit, etwa bei der Ebola-Bekämpfung in Sierra Leone, sehr gute Erfolge erzielt.

Drittens: Wir bilden und rüsten medizinisches Personal aus, auch in Zusammenarbeit mit Regierungen. Das schaffen wir natürlich nicht alles alleine. Und das alles ist teuer. Wir rechnen mit Kosten von etwa 350 Millionen US-Dollar, das sind umgerechnet etwa 320 Millionen Euro.

DOMRADIO.DE: Schon bevor ein Impfstoff gegen Covid-19 da ist, gibt es unter den Mächtigen dieser Welt Streit um die Zugriffsrechte. Was fordern Sie da für die Entwicklungsländer?

Bathe: Dieser Streit ist natürlich zum einen sehr erbärmlich und zum anderen auch erwartbar. Es ist aber ganz klar, dass ein solcher Wirkstoff, seien es nun Medikamente oder Impfstoffe, für alle Menschen da sein muss.

Und zwar zu einem Preis, den sich die Menschen auch leisten können. Das können ja auch unterschiedliche Preise sein, also etwa in den entwickelten Ländern etwas höher und in den armen Ländern des globalen Südens dafür deutlich günstiger. Denn es darf einfach keine Exklusivrechte für bestimmte Nationen oder Bevölkerungsgruppen geben. Alles andere wäre schlicht unmenschlich.

DOMRADIO.DE: Warum ist das in unserem eigenen Interesse, wenn wir jetzt auch die Menschen in Konflikt und Krisenregionen nicht vergessen?

Bathe: Zum einen kennt das Virus keine Grenzen. Es hat ja auch keine Nationalität. Wenn wir die Pandemie nicht gemeinsam und global bekämpfen, dann werden wir auf Dauer keinen Erfolg haben. Denn dann wird es wiederkommen, auch nach Deutschland.

Und zum anderen können sich gerade Menschen in Konflikt- und Krisenregionen nicht selbst helfen. Das ist ein Trugschluss, dass man immer alles selber erledigen kann. In Ländern wie Mali oder auch dem Sudan, in anderen Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo oder in Somalia gibt es einfach keine staatlichen Strukturen, die ein funktionierendes Gesundheitssystem gewährleisten könnten.

Da müssen wir auch in unserem eigenen Interesse investieren. Zum anderen wollen wir als Christen tatsächlich Erbsenzähler sein? Oder doch eher Menschen, für die die Not des anderen auch die eigene Not ist? Wir sind auf der einen Seite als Investoren gefragt, die im eigenen Interesse handeln, aber auch als Menschen, die eine gewisse moralische Pflicht haben, die wir auch erfüllen müssen. 

Das Interview führte Hilde Regeniter. 


Dirk Bathe / © worldvision
Dirk Bathe / © worldvision
Quelle:
DR