Historiker Aust zur Debatte über ein neues NS-Mahnmal in Berlin

"Ein Platz im Herzen der Stadt"

Historiker Martin Aust möchte gemeinsam mit seinem Kollegen, Heinrich August Winkler, und der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die Debatte um einen neuen Gedenkort für Opfer von NS-Gewalt in Berlin voranbringen. Warum?

Martin Aust / © Harald Oppitz (KNA)
Martin Aust / © Harald Oppitz ( KNA )

Katholische Nachrichtenagentur (KNA): Herr Professor Aust, während eine Initiative um den ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Florian Mausbach, die polnischen Opfer besonders gewürdigt wissen will, machen Sie sich schon seit längerem für ein Dokumentationszentrum stark, das die Situation in allen osteuropäischen Staaten in den Blick nimmt. Der NS-Vernichtungskrieg im Osten Europas ist ein abstrakter Begriff. Was verbirgt sich dahinter?

Professor Martin Aust: Im Zweiten Weltkrieg hielten deutsche Truppen einen Großteil von Europa besetzt. Dabei kam es an vielen Orten zu Massen- und Gewaltverbrechen. Ein Beispiel ist das von der SS begangene Massaker an den Einwohnern des französischen Dorfes Oradour-sur-Glane oder der vorgebliche Kampf gegen Partisanen auf dem Balkan und in Griechenland. Im Osten Europas jedoch hatte diese Gewalt systemischen Charakter.

KNA: Wie hat man sich das vorzustellen?

Aust: Der Tod von Millionen Menschen wurde billigend und bewusst in Kauf genommen, um in diesen Regionen, so sah es der "Generalplan Ost" vor, später einmal deutsche Volksgenossen anzusiedeln. Jedes Land machte dabei eigene, schreckliche Gewalterfahrungen. Auf dem Gebiet des heutigen Russland ist beispielsweise die Blockade Leningrads unvergessen, der schätzungsweise eine Million Einwohner zum Opfer fielen. In Weißrussland, dem heutigen Belarus, machten Wehrmacht und SS Tausende Dörfer und Städte dem Erdboden gleich, aus der Ukraine rekrutierte man Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und in Polen befahlen die Deutschen Umsiedlungen und Deportationen. Später errichteten sie dort Vernichtungslager wie das KZ Auschwitz und schlugen den Warschauer Aufstand 1944 brutal nieder.

KNA: Gerade Polen hat aber eine doppelte Leidensgeschichte. Zunächst zerschlugen Sowjets und Deutsche gemeinsam den polnischen Staat und löschten große Teile seiner Eliten aus. Relativieren Sie mit einem gemeinsamen Denkmal für alle Untaten nicht diesen sehr speziellen und sehr belastenden Teil der polnischen Geschichte?

Aust: Der Gedenkort, für den wir uns stark machen, will ja gerade die jeweils spezifischen Gewalterfahrungen aufzeigen und die Erinnerung daran wach halten. Das Sprechen in Superlativen oder im Singular erschwert meiner Ansicht nach, Empathie mit den Opfern zu empfinden. Es geht nicht darum, erlittenes Leid gegeneinander aufzurechnen, sondern hinzuschauen, zuzuhören und sich ausnahmslos den Verbrechen zu stellen, die von den Deutschen im Osten Europas verübt wurden.

KNA: Aber wird man diesen Ansatz in Polen teilen können?

Aust: Unsere polnischen Nachbarn erwarten zu Recht, dass die deutsche Öffentlichkeit sich das Ausmaß deutscher Verbrechen in Polen und das Leid polnischer Opfer bewusst macht. Wir sollten aber umgekehrt auch bei unseren Nachbarn auf Verständnis dafür hoffen, dass wir eine Erinnerungsverantwortung gegenüber vielen Ländern in Europa haben, wenn wir der Opfer des deutschen Vernichtungskriegs würdig gedenken wollen.

KNA: Bereits seit längerer Zeit gibt es Debatten über einen Gedenkort - entweder für die Opfer des deutschen Überfalls auf Polen oder, wie von Ihnen gefordert, für alle Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten Europas. Im Bundestag liegen zwei Anträge dazu vor. Aber die runden Jahrestage sind allesamt verstrichen, ohne dass sich etwas getan hätte. Warum ist das so?

Aust: Es fehlt nicht an politischem Willen. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass bis zum Sommer nächsten Jahres eine Entscheidung fällt, weil dann die Legislaturperiode zu Ende geht und die Errichtung einer Gedenkstätte im Koalitionsvertrag verabredet war. Aber das Thema ist nun einmal komplex.

KNA: Machen sich die beiden Initiativen gegenseitig Konkurrenz?

Aust: Nein, das glaube ich nicht. Beide Initiativen verfolgen hehre Ziele mit nachvollziehbaren Argumenten. Ich denke allerdings, dass man die zugrundeliegenden Vorstellungen miteinander verbinden könnte zu einem gemeinsamen Dokumentationszentrum für die Opfer von Besatzung und Vernichtungskrieg im Osten Europas.

KNA: Wie könnte ein solches Dokumentationszentrum aussehen?

Aust: Ich könnte mir ein rechteckiges Gebäude vorstellen mit einem Eingang an einer der schmalen Seiten. Von dort hätte der Besucher zwei Optionen. Einen Rundgang an den drei Seiten des Rechtecks, der in zeitlicher Abfolge und geordnet nach Regionen die spezifischen Vertreibungs- und Gewalterfahrungen thematisiert. Oder der Weg führt direkt in einen quadratischen Innenhof, in dem verschiedene Denkmäler an die einzelnen Etappen des NS-Vernichtungskrieges erinnern. Dazu käme im ersten Stock Orte der Begegnung, zum Beispiel für Jugendliche oder für Wissenschaftler.

KNA: Die Initiative für das Polen-Denkmal schlägt als Ort den Askanischen Platz unweit der Kriegsruine des Anhalter Bahnhofs vor. Wäre das auch ihre Wahl?

Aust: Ja, ohne dass ich dort die Eigentumsverhältnisse kenne. Es geht darum, die zentrale Berliner Gedenklandschaft zu vervollkommnen. Insofern müsste es ein Platz im Herzen der Stadt sein.

Von Joachim Heinz 


Quelle:
KNA
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