DOMRADIO.DE: Monsignore Kleine, mit der legendären Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 ist dieser wichtige Gedenktag zum ersten Mal als "Tag der Befreiung" ins Bewusstsein der deutschen Bevölkerung eingegangen, während er bis dahin als das Datum der bedingungslosen Kapitulation und der militärischen Niederlage Deutschlands bedacht wurde. In diesem Jahr sollte es zum 75. Jahrestag des Weltkriegsendes in Köln eine große Feier zu diesem denkwürdigen Anlass geben. Was alles kann wegen Corona nun nicht stattfinden?
Monsignore Robert Kleine (Dom- und Stadtdechant in Köln): An diesem Freitag sollte vom Kölner Dom aus eine Botschaft in die ganze Welt gehen. Kirchlicherseits war dazu als Höhepunkt die Aufführung des Friedensoratoriums "Lux in tenebris" – Licht in Dunkelheit – von Helge Burggrabe gedacht, an dem maßgeblich unsere Domchöre beteiligt sein sollten. Diese Musik beschäftigt sich mit den zentralen Fragen: Wie können wir in Frieden miteinander leben? Und wie entstehen Gewalt und Krieg? Gleichzeitig lädt diese Komposition dazu ein zu bedenken, was bedeutet Erinnern und was hat die Hoffnung, die 1945 von unserer zwar beschädigten, aber nicht zerstörten Kathedrale für die Menschen ausging, in unserer Stadt, in unserem Land und in ganz Europa bewirkt. Schließlich ist aus den Trümmern heraus unsere Demokratie erwachsen und auch ein geeintes Europa, wofür in besonderer Weise unsere Städtepartnerschaften mit Liverpool, Lille, Katowice, Wolgograd oder Indianapolis stehen; Namen, die sowohl die Opfer als auch die Befreier im Zweiten Weltkrieg repräsentieren. Sogar aus Tunis wäre auf Einladung von Oberbürgermeisterin Reker ihre Amtskollegin angereist, weil es ausdrücklich auch nach Afrika als einem nicht gerade sehr präsenten Ort des Kriegsgeschehens an diesem Jahrestag einen bewussten Brückenschlag geben sollte.
Vor dem Konzert im Dom wollten wir einen ökumenischen Gottesdienst in der Minoritenkirche feiern, bei dem der Dean der katholischen Kirche in Liverpool predigen sollte. Im Anschluss hätte es dann das Oratorium gegeben, das aus dem Dom auf den Roncalli-Platz übertragen und in vielen anderen Kirchen gleichzeitig gezeigt worden wäre, darunter auch im Berliner Dom. Überall sollten die Menschen im Sinne der Völkerverständigung gemeinschaftlich dieses Werk hören können und sich darüber miteinander verbinden. Also, wir hatten ein großes internationales und nationales Gedenken geplant.
DOMRADIO.DE: Aber dann kam Corona dazwischen…
Kleine: Ja, obwohl wir zunächst noch dachten, wir könnten an unserer Idee festhalten. Dann eben ohne Publikum. Aber schon bald zeigte sich, dass auch das illusorisch war und wir wegen der Auswirkungen der Pandemie das ganze Projekt absagen mussten. Neben Grußworten von Frau Reker und mir war außerdem noch ein Begleitprogramm zu "Lux in tenebris" mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen über das Bildungswerk geplant. Unter anderem wollte der Journalist Heribert Prantl über die politische Seite des Aufbruchs nach 1945 und die sich neu anbahnenden Schatten in Europa sprechen, die sich im Erstarken von Rechtpopulismus und Nationalismus zeigen – mit dem Ziel, die grundsätzliche Brüchigkeit von Frieden bewusst zu machen und mit Blick auf Länder wie die Ukraine zu zeigen, dass Frieden nichts ist, was wir festhalten können und damit auch kein dauerhaft verfügbares Gut ist. Von daher ist der 8. Mai, auch wenn er in seiner ursprünglich geplanten Form nun nicht stattfinden kann, nicht nur für die Gesellschaft als ganze, sondern für jeden Einzelnen Aufforderung, persönlich an diesem Frieden weiterzubauen.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet das in der Außenwirkung, wenn dieses öffentliche Erinnern jetzt ausfällt?
Kleine: Im Moment überlagern Corona und alle damit verbundene Einschränkungen diesen historischen Tag derart, dass das Kriegsende- und Friedensgedenken sicher etwas im öffentlichen Bewusstsein untergehen wird, was ich sehr bedaure. Denn der 8. Mai ist ja nicht nur ein Datum, an dem die Erinnerung an das nationalsozialistische Regime und den von ihm begonnenen Zweiten Weltkrieg noch einmal wach gerufen wird, sondern an dem vor allem auch der Befreiung von der Nazi-Diktatur durch die Alliierten gedacht wird, die unser Land in eine neue Phase – nämlich die eines andauernden Friedens – geführt haben. Sie haben die Grundlage für einen Neubeginn und damit für eine Demokratie geschaffen, die nun schon so lange Bestand hat. Und gerade weil wir dieses Tages so dankbar gedenken wollten, ist da hinein auch das Herzblut so vieler Künstler geflossen, die aus "Lux in tenebris" ein Gesamtkunstwerk mit lyrischen Texten und Videokunst unter Einbeziehung der besonderen Architektur des Domes machen wollten. Dieses von langer Hand vorbereitete Projekt abrupt abbrechen und vorerst auf Eis legen zu müssen, war eine schmerzliche Entscheidung.
Denn der Kairos dieser Feierstunde kann nicht nachgeholt werden. Das ist wie bei einem großen Geburtstag, zudem die Gäste bereits geladen waren und sich auf ein einmaliges Fest gefreut haben. Das in einem Jahr nachzufeiern ist einfach nicht dasselbe. Gerade die Emotionalität, die mit dem 75. Jahrestag des Kriegsendes verknüpft ist, bleibt nun mal an das Jahr 2020 gekoppelt. Und dass wegen Corona nun auch noch die Grenzen unserer Nachbarländer geschlossen sind und dadurch die völkerverbindenden Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, nämlich offene Grenzen, ins genaue Gegenteil verkehrt werden, macht das Ganze doppelt traurig. Was für eine Symbolträchtigkeit an diesem Tag, von dem – so die ursprüngliche Idee – eine große Kraft ausstrahlen sollte!
DOMRADIO.DE: Gibt es denn schon Ideen – eventuell wieder im Schulterschluss mit der Stadt – dieses einmalige Erlebnis in irgendeiner Form zu kompensieren und einen Ausweichtermin zu finden?
Kleine: Mit der Stadt gibt es bislang noch keine neuen Gespräche. Aber seitens des Bistums und auch des Domes steht bereits fest, dass wir innerhalb der Jahresfrist und damit am 7. Mai 2021 das Projekt "Lux" neu anstoßen und die Aufführung mit Helge Burggrabe dann unter der Überschrift "75+1" realisieren wollen. In der Hoffnung, dass die Corona-Krise dann hinter uns liegt und wir im Rückblick zusätzlich der vielen "Licht"-Momente, die dieses aktuelle Krisenjahr mit dem vielfältigen Engagement der Menschen für Hilfebedürftige, Alte und Einsame zutage gebracht hat, gedenken können. Die Überwindung dieser akuten Pandemie könnte dann zu einem bewussten Teilaspekt einer solchen Feier werden, in die vor allem auch unser Dank mündet, nun wieder nach vorne schauen zu können.
DOMRADIO.DE: In den ersten Friedenstagen 1945 gingen Bilder von amerikanischen Panzern vor dem Hauptportal des Domes um die Welt. Was fühlen Sie, wenn Sie heute solche Archiv-Aufnahmen betrachten?
Kleine: Das linksrheinische Köln wurde ja schon einige Wochen vor dem 8. Mai befreit. Ich kann nur erahnen, was es bedeutet haben muss, dass die Nazi-Diktatur nun endgültig vorbei war, der verbrecherische Staat nicht mehr existierte und das große Leid der Menschen – auch hier in Köln – ein Ende hatte. Ehrlich gesagt, lässt mich ein solches Bild tiefe Freude empfinden, weil aus dieser furchtbaren Verwüstung – auch der menschlichen Seele – am Ende doch wieder etwas Gutes erwachsen ist. Von daher hat ein solches Foto enorme Symbolkraft. Der Dom wurde trotz eines furchtbaren Bombardements wie durch ein Wunder nicht zerstört. Geradezu stolz überragte er die Trümmer der ganzen Stadt. Hier war ein Gotteshaus stehen geblieben, das für die göttliche Botschaft der Liebe steht. Und davor dieser Panzer, aus dem nicht mehr geschossen wurde: Symbol einer sehnlichst erwarteten Befreiung. Eine eingefrorene Momentaufnahme an der Schwelle von Tod und Leben.
Irgendwann war das schwere militärische Gerät dann weg. Aber der Dom blieb dennoch stehen und wurde für viele Kölner zu einem Hoffnungszeichen schlechthin. Bei aller Ungewissheit, was die unmittelbare Zukunft dann bringen sollte, lese ich aus diesem Bild zunächst einmal die große Erleichterung: Der Schrecken ist vorbei. Am Ende ist es ein ganz wunderbares Dokument der Hoffnung, die sich in den letzten 75 Jahren auch erfüllt hat.
Und dann erinnert mich dieses Foto auch noch an ein persönliches Erlebnis, das ich vor wenigen Jahren vor Santa Maria Maggiore in Rom hatte. Hier stand nach den islamistischen Terroranschlägen in europäischen Hauptstädten zum Schutz der Touristen auch ein kleiner Panzer. Obwohl er ein Gefühl von Sicherheit und Schutz vermitteln wollte, machte er auf eine Bedrohungslage aufmerksam. Auch wenn sich die Szene "Panzer vor Kirche" wiederholt – 1945 war es ein ganz anderer Kontext: Der Krieg ist vorbei!
DOMRADIO.DE: Aus den Tagebuch-Aufzeichnungen 1944 bis 1946 von Robert Grosche, einem Ihrer Vorgänger im Amt des Kölner Stadtdechanten, wissen wir, wie er damals das letzte Kriegsjahr und die Zeit unmittelbar nach Kriegsende erlebt hat. Was ist für Sie das Beeindruckendste an diesen Zeugnissen, die eine Leseempfehlung allemal wert sind?
Kleine: Das Besondere ist, dass sie von einem authentischen Zeitzeugen stammen, der beschreibt, was er gerade erlebt. Und das hat auf jemanden, der den Krieg selbst nicht miterlebt hat, eine sehr berührende Wirkung. Robert Grosche schildert eindrücklich diese Schwelle, die wir mit diesem 8. Mai erinnernd betreten. Bezeichnend für ihn ist, dass aus seinen Einträgen trotz des Chaos um ihn herum großes Gottvertrauen spricht. In diesen Kriegswirren hätte er auch an Gott zweifeln oder an ihm irre werden können. Und eigentlich nicht erst dann. Auch zu Beginn des Nazi-Regimes wäre bereits legitim gewesen zu fragen: Wo denn ist Gott? Um wie viel mehr noch die Jahre darauf, als der Krieg ausbricht, er mit unaussprechlichem Leid konfrontiert wird und als Pfarrer von St. Mariä Himmelfahrt bei den Bombenangriffen viele seiner Pfarrangehörigen verliert.
Aber diese Frage stellt er nicht. Stattdessen hält er dagegen, ermutigt seine Mitbrüder und organisiert kirchliches Leben – auch unmittelbar nach dem Krieg, als die Menschen Hunger haben, große Not leiden und karge Nachkriegswinter in einer einzigen Trümmerlandschaft überstehen müssen. Bis die Bundesrepublik Deutschland 1949 entsteht, vergehen ja immerhin noch vier lange Jahre. Das alles kann man sich nicht wirklich vorstellen. Trotzdem wird es lebendig in den Schilderungen Grosches. Das ist sein großes Verdienst.
DOMRADIO.DE: Bei dem verheerenden Peter und Paul-Angriff in der Nacht des 29. Juni 1943 legen Bomben Köln in Schutt und Asche. Doch der Dom – Sie sagten es schon – blieb dennoch weitestgehend verschont. Wie ein Mahnmal ragte er aus den Ruinen der teils bis auf die Grundmauern zerstörten Stadt. Was glauben Sie, bleibt die immergültige Botschaft der damaligen Zeit an uns heute?
Kleine: Ich erinnere immer gerne daran, dass wir in Alt-St. Alban neben dem Gürzenich mit dem trauernden Elternpaar von Käthe Kollwitz einen Ort haben, der nach dem Krieg bewusst nicht wieder aufgebaut wurde, weil er als Denkmal dienen sollte. Das Wort "Denk-mal" lässt sich auch als Imperativ lesen: also, dass wir alle aufgefordert sind, aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Der 8. Mai ist von seiner unvergleichlichen Bedeutung her etwas anderes als 750 Jahre Grundsteinlegung Kölner Dom oder der 250. Geburtstag von Beethoven. Der 8. Mai bedeutet Rückblick auf eine Schreckensherrschaft mit zig Millionen Toten, Heimatlosen und Traumatisierten sowie Erinnerung und Dank für das, was aus unserem Land geworden ist. Zugleich ist dieser Tag Auftrag, bleibende Mahnung und das Ausrufezeichen einer wehrhaften Demokratie.
DOMRADIO.DE: Kommt der Kirche dabei eine besondere Rolle zu?
Kleine: Während des Nationalsozialismus haben die deutschen Bischöfe nicht immer eine glorreiche Rolle gespielt und es versäumt, zur rechten Zeit ihre Stimme zu erheben. Daraus sollten wir die Lehre ziehen, immer dann aufzustehen, wenn es nötig ist. Die Bilder unserer zerstörten Stadt können da Mut machen. Als alles am Boden war, verband die Menschen Solidarität und der Wille, einander beim Wiederaufbau einer Existenz zu helfen. Dieses sprichwörtliche "Auferstehen aus Ruinen" – um einmal die DDR-Hymne zu zitieren – hat hier funktioniert und kann auch heute wieder ermutigen. Nur dass es 2020 ein Land wie Syrien ist, dass unserer aller Unterstützung bedarf, weil ein jahrelanger brutaler Krieg dafür sorgt, dass das Land von Grund auf neu aufgebaut werden muss. Wieder geht es um Hoffnung und Aufbruch für die Bevölkerung. Wieder stehen wir vor einer Mammutaufgabe.
Die Menschen damals an der Zeitenwende von Krieg und Frieden haben bewiesen, dass sie mit diesen Werten des Füreinander-Einstehens etwas bewegen und ganz viel Kraft mobilisieren konnten. Im Rückblick auf die Geschichte und das Jahr 1945 bin ich daher ganz zuversichtlich, dass wir auch die momentane Krise in großer Solidarität miteinander bewältigen werden.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.