DOMRADIO.DE: Frau Will, Sie beschäftigen sich – auch unabhängig von offiziellen Gedenktagen – mit der heilsamen Erinnerung an Verstorbene und der Trauerbegleitung Hinterbliebener. Die Corona-Krise macht den Umgang mit diesen Themen nicht einfacher. Im Gegenteil. Drängen sich da nicht geradezu Parallelen zu der Zeit von vor 75 Jahren auf?
Eva-Maria Will (Referentin für Trauerpastoral): Um gleich einmal das Stichwort "Corona" aufzugreifen: Seuchen wie Typhus und die Ruhr oder lebensbedrohliche Krankheiten wie Tuberkulose und Diphtherie waren natürlich nach Kriegsende 1945 ein großes Thema. In ungezählten Familien gab es Angehörige, die in dieser Zeit durch eine Seuche ums Leben gekommen sind, auch wenn diese Tatsache zunächst einmal nicht im Fokus stand, weil das Land in Schutt und Asche lag und man sich primär die Frage stellte, wie die Trümmer beseitigt werden könnten. Aber natürlich waren Epidemien immer schon ein grausames Begleitphänomen von Kriegen. So auch nach dem Zweiten Weltkrieg, denn die Lebensbedingungen waren erst einmal katastrophal. Das betraf vor allem die KZ-Häftlinge, die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in den Lagern sowie die Flüchtlinge in den Notunterkünften. Tausende von Menschen starben – auch mangels medizinischer Versorgung – an diesen tödlichen Krankheiten. Das zählt zu den traumatischen Erlebnissen eines Großteils der alten Menschen, die im Krieg den Vater, die Schwester oder einen anderen nahen Angehörigen verloren haben. Und in der aktuellen Krise kommt diese unverarbeitete Trauer wieder hoch.
DOMRADIO.DE: Können Sie derzeit beobachten, dass sich diese alten Ängste von damals wiederholen?
Will: Mich wundert es jedenfalls nicht, dass heute viele Menschen auf die momentane Krise mit einem besonderen Reinigungsdrang reagieren, dass sie Toilettenpapier und Desinfektionsmittel horten. Manche hoffen wohl, damit nicht nur äußerlich die Viren, sondern möglichst auch die alten Erinnerungen abwaschen zu können. Das heißt übrigens nicht, dass nur alte Menschen, die Angehörigen der Erlebnisgeneration, davon betroffen sind. Denn es ist inzwischen ja bekannt und in Studien immer wieder herausgearbeitet worden, dass die Kriegsgeneration unbewusst ihre Ängste an ihre Kinder weitergegeben hat – ganz gleich, ob sie von ihren Erlebnissen erzählt oder darüber geschwiegen hat. Denn viele haben ja von ihren furchtbaren Erlebnissen in der Kriegs- und Nachkriegszeit lange nicht gesprochen. Manche bis heute nicht. Sie haben sich in die Verdrängung geflüchtet, vielleicht auch um scheinbar unbelastet neu anfangen zu können. Aber der lange Schatten des Krieges reicht bis in unsere Generation und in unsere Tage. Das bestätigen uns immer wieder Psychologen und Therapeuten.
DOMRADIO.DE: Die Bilder von anonymen Massengräbern in Amerika, dem Abtransport unzähliger Särge aus den italienischen Krankenhäusern durch Wagen der Streitkräfte oder Aufnahmen von den vielen Leichen auf den Straßen in Ecuador sind verstörend. Eine Bestattungskultur, wie wir sie kennen, ist da nicht möglich. Auch das erinnert an Kriegsszenarien. Was bedeutete das damals und was bedeutet es heute, wenn es keinen persönlichen Abschied oder nicht einmal ein Grab für die Trauer gibt?
Will: Manche Familien erfuhren nach Kriegsende, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Sie erhielten ein Telegramm mit der Todesnachricht. Andere mussten mit einer quälenden Ungewissheit leben, bevor sie Jahre später durch das Rote Kreuz vom Schicksal ihres Vaters, Bruders oder Sohnes erfuhren. Aber natürlich waren unter den vielen Toten, die an einer Seuche gestorben waren, genauso auch Frauen, Mädchen und Kleinkinder, die übrigens spätestens am darauffolgenden Tag beerdigt werden mussten. Häufig geschah das in Massengräbern. Die Leichen wurden ohne Sarg in große Gruben gelegt und mit Erde zugeschüttet. Wer Zeuge eines solchen unwürdigen Begräbnisses wurde, ist diesen Anblick sicher nicht mehr losgeworden.
Und genau solche Bilder aus Norditalien, aus New York und aus Südamerika laufen in diesen Wochen über den Bildschirm und verbreiten Angst. Gerade auch weil viele damals vor 75 und 80 Jahren nicht einmal ein Grab hatten, an das sie gehen konnten, um zu weinen. Damit sie diesen Schmerz aber dennoch irgendwie psychisch bewältigen konnten, versuchten sie, die Trauer auszublenden. Infolgedessen haben sie diese Gefühle nicht bearbeitet, sondern heruntergeschluckt und die Spätfolgen jahrzehntelanger unbewältigter Trauer mit sich herumgeschleppt. Daran leiden viele heute noch oder sind regelrecht krank geworden. Das zeigt, wie wichtig es ist, den erlittenen Verlust bearbeiten zu können.
DOMRADIO.DE: Trauer – vor allem unverarbeitete – ist sicher zu allen Zeiten ein wichtiges Thema. Wann läuft jemand Gefahr, dass für ihn daraus ein Trauma wird?
Will: Traumatische Erfahrungen, wie sie die Menschen in der Kriegs- oder Nachkriegszeit gemacht haben, drohen auch den Angehörigen heute, die während der Corona-Pandemie einen nahestehenden Angehörigen verlieren. Denn wenn jemand an Covid-19 stirbt oder die Todesursache zumindest unklar ist, muss der Leichnam nach dem Seuchenschutzgesetz als infektiös behandelt werden. Das heißt, der direkte Kontakt ist verboten und ein Abschied am offenen Sarg unmöglich. Bislang war es ja ohnehin so, dass nur die engsten Angehörigen an der Beisetzung teilnehmen konnten. Das wird sich erst allmählich in kleinen Schritten ändern, aber wir werden das noch lange spüren.
Dann hilft es bei der Bearbeitung der Trauer, möglichst den Gottesdienst oder die Trauerfeier nachzuholen, um wirklich Abschied nehmen und den Tod – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen zu können. Dazu bietet sich an, beispielsweise den Geburtstag oder den ersten Todestag, das traditionelle Jahrgedächtnis, für eine größere Trauerfeier zu nutzen. Denn wir Menschen brauchen solche Rituale, um eine Phase in der Trauer beenden und den Verstorbenen neu in unser Leben integrieren zu können.
DOMRADIO.DE: Nichts wird in diesen Tagen so oft im Zusammenhang mit dem Corona-Virus thematisiert wie der Aspekt der Einsamkeit, mit der vor allem die alten Menschen konfrontiert werden, die als besonders schutzbedürftig gelten…
Will: Zu Recht ist Einsamkeit gerade wieder ein großes Thema. Vor allem für die Menschen, die den Holocaust überlebt haben, ist das ein großes Problem. Denn die Absage von Veranstaltungen, die Abstandsregelungen und Beschränkungen bis hin zur vollkommenen sozialen Isolation erinnern diese Menschen an die Ghettos, in denen sie als vom Nazi-Regime Verfolgte ausgesondert lebten. Heute fühlen sie sich wieder einsam – hier wiederholt sich für sie ein belastender Teil ihrer Biografie – und diese Einsamkeit macht ihnen, eben weil sie sie kennen, große Angst. Leider sind von diesem Gefühl heute ganz viele Menschen betroffen, die sich auch sonst mit Sozialkontakten eher schwer tun oder gesellschaftlich nicht gut integriert sind. Dazu zählen nicht nur die Alten und Kranken.
DOMRADIO.DE: Der 8. Mai 1945 wird als historisches Datum, an dem Nazi-Deutschland kapitulierte, begangen. Doch es markiert nicht nur die Befreiung von einer zwölfjährigen Gewaltherrschaft. Faktisch ging für Millionen Menschen an diesem Tag ihr persönliches Kriegsdrama weiter…
Will: Dieser Tag ist für uns Deutsche ein wichtiger Gedenktag, denn die Diktatur hatte offiziell ein Ende. Trotzdem war es nicht für alle die "Stunde Null", als die der 8. Mai oft bezeichnet wird. Denn für die meisten Menschen war der Krieg noch lange nicht vorbei. Sie hatten keinen Grund, laut zu jubeln. Eher begann für sie noch einmal ein langer Leidensweg: Viele hatten kein Dach über dem Kopf. Die Heimatlosen und Freigelassenen waren orientierungslos und wussten gar nicht, wohin sie gehen sollten. Große Flüchtlingsströme setzten sich in Gang. Da, wo sie Station machten, waren sie oft nicht willkommen und mussten um ihre Anerkennung und Würde kämpfen. Der Großteil von ihnen hatte nichts zu essen oder litt in den Hungerwintern an der Kälte. Das erklärt auch, warum heute so viele Menschen zu Hamsterkäufen neigen und enorme Vorräte an Mehl, Nudeln und anderen Grundnahrungsmitteln speichern. Die Menschen waren körperlich und seelisch kriegsversehrt, wovon sie sich lange nicht – manche sogar nie – erholen konnten.
DOMRADIO.DE: Sie schildern sehr eindrücklich, dass sich in einer Ausnahmesituation menschliche Reaktionen und Verhaltensweisen wiederholen. Dazu gehört sicher auch – Sie nannten schon das Stichwort "Flucht" – was wir seit 2015 weltweit erleben: dass Millionen Menschen in großen Fluchtbewegungen ihre Heimatländer verlassen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber auch auf diesem Weg entstehen neues Leid und neue Not. Wie passt das zu unserer Erinnerungskultur, die an einem Tag wie dem 8. Mai im Zentrum steht?
Will: Für uns als bundesdeutsche Gesellschaft ist dieses Datum von großer Bedeutung, denn wir dürfen die mehr als 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges nicht vergessen. Wenn wir das täten, würde die Gefahr bestehen, dass sich Gräueltaten wiederholen. Davor warnen uns der aktuelle Rechtsextremismus und der neu erstarkende Antisemitismus. Stattdessen müssen wir unsere Lehren daraus ziehen, damit sich dieser Teil Geschichte nicht wiederholt.
Wir Deutsche haben mit Blick auf die Verbrechen, die von Nazi-Deutschland ausgingen, eine große Verantwortung, als Kriegsverursacher vielleicht die größte in der Welt. Eine Kultur des Erinnerns ist daher unverzichtbar, wenn wir für unsere Werte authentisch einstehen wollen. Deshalb ist es bedauerlich, dass viele Veranstaltungen zum 75-jährigen Gedenktag des Kriegsendes in diesem Jahr ausfallen müssen. Dafür sollten wir uns umso mehr auf unsere derzeitige Verantwortung in der aktuellen Krise konzentrieren und dürfen dabei die Herausforderungen an den europäischen Grenzzäunen nicht übersehen. Wir müssen uns beispielsweise dringend um die Menschen in den überfüllten Flüchtlingslagern auf Lesbos und anderen griechischen Grenzgebieten kümmern. Gerade jetzt, wo Corona das Flüchtlingselend noch einmal dramatisch verschärft. Das ist unsere gegenwärtige Aufgabe, die sich schon allein zwangsläufig aus 75 Jahren Frieden ergibt.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.