Luzia und ihre Mutter sitzen am Wohnzimmertisch und üben Mathe: Langsam fährt der zarte Finger des Mädchens über große bunte Knöpfe mit Zahlen. Leicht fällt der 10-Jährigen das nicht, diese zu erkennen und auszusprechen, aber sie ist mit großer Konzentration bei der Sache. – So sah ihr Alltag in den vergangene zehn Wochen aus. Ihre Mutter war dabei alles gleichzeitig: Lehrerin, Therapeutin und Pflegerin, denn Luzia hat eine Infantile Zerebralparese: Sie sitzt im Rollstuhl und ist geistig behindert. Sie braucht Hilfe bei fast allem.
Vor Corona war Luzias Tag strukturiert durch Schule und Nachmittagsbetreuung, erzählt die Mutter Helena N. [Name von der Redaktion geändert]. "Aber als in der Corona-Krise die Schulen geschlossen wurden, musste ich 24 Stunden am Tag die Pflege übernehmen", erinnert sie sich. "Und nebenher noch arbeiten und unterrichten. Irgendwann kann man nicht mehr!" Und auch für Luzia war die Zeit schwer, erzählt sie: Das Mädchen fühlte sich allein und vermisste ihre Schulkameraden.
Bitte zu Hause bleiben!
Als im Mai in NRW schrittweise die Schulen wieder geöffnet wurden, fieberte auch ihre Familie dem Unterrichtsbeginn entgegen, doch dann der Schock: "Kurz vorher bekamen wir einen Anruf von der Schulleitung, die uns quasi überreden wollte, unser Kind zu Hause zu behalten", erinnert sich Helena. "Es hieß, dass die Regeln so scharf sind, dass sie mit Kindern mit Behinderung an unserer Schule nicht umgesetzt werden können."
Eva-Maria Thoms beobachtet in den vergangenen Wochen immer wieder eine Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Sie ist Vorsitzende von mittendrin e.V., einem Verein, der in Köln Eltern berät. Es gebe eine Reihe von Schülerinnen und Schülern, die bis heute keine Schule von innen gesehen hätten, erzählt sie: In einigen Fällen seien die Eltern gebeten worden, ihre Kinder bis zu den Sommerferien zu Hause zu behalten. Andere würden aus dem Klassenverband genommen und gesondert behandelt oder einfach nur betreut, statt unterrichtet. In Hamburg sollte ein Erstklässler mit Down Syndrom sogar hinter eine Glasscheibe gesetzt werden, um dort zu lernen. Begründet wird dies meist mit dem Infektionsschutz.
Doch keine Gleichkeit?
Eva-Maria Thoms kritisiert das: Kinder und Jugendliche mit Behinderung mit der pauschalen Begründung auszuschließen, dass sie Hygiene- und Anstandsregeln nicht einhalten könnten, sei zutiefst diskriminierend. "Und es ist im Übrigen auch falsch", sagt sie, "Ich kenne viele, die achten stärker auf Regeln, als so manch anderer ohne Behinderung!" Mit solchen Maßnahmen demonstriere man eben nicht: Wir gehören zusammen. "Man demonstriert: Du bist anders. Wir sind ungleich. Man demonstriert Ausgrenzung!"
Die NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer von der FDP weist das zurück: "Es darf keinen generellen Ausschluss von Kindern mit Handicap an Regelschulen geben", sagt sie und verweist auf die Öffnungspläne für die Schulen, bei denen man stets Kinder und Jugendliche mit Behinderung mitgedacht habe. Als Förderschulen für geistige und körperliche Entwicklung in NRW im Mai zunächst geschlossen blieben, herrschte bei vielen betroffenen Familien Verunsicherung. Die Ministerin versichert jedoch: "Wir haben ausgiebig mit allen Beteiligten gesprochen, was den Förderschwerpunkt geistige, körperliche und motorische Entwicklung anbelangt." Sie ist überzeugt: "Wir sind die richtigen Schritte hintereinander gegangen, um schnellstmöglich auch Kindern mit Handicap Unterricht in Zeiten von Corona zur Verfügung zu stellen!"
Inklusion: Ein Grundrecht, keine Gefälligkeit
Luzia darf seit letzter Woche endlich wieder zur Schule, wenn auch nur einen Tag in der Woche. Zu verdanken hat sie das ihrer Mutter, die nicht lockerließ und schließlich den Behindertenbeauftragen einschaltete. Dass sie das erkämpfen musste, enttäuscht sie jedoch maßlos, denn die Schule ihrer Tochter wirbt mit Inklusion, ist eines der Vorzeigeprojekte der Stadt Köln. Ausgerechnet. "Das war so kränkend", sagt sie, denn es habe ihr vor Augen geführt, dass ihre Tochter offenbar doch nicht dazu gehöre. "Das hat mein Vertrauen zutiefst erschüttert!"
Bildungsexpertin Thoms sieht dahinter ein politisches Problem: Schwarz-Gelb lasse in NRW einfach keinen ernsthaften Willen zur Inklusion erkennen, sagt sie: "Das Ziel der inklusiven Bildung wurde politisch beschlossen und ich wünsche mir von unserer Schulministerin, dass sie das offensiv vertritt. Nicht nur bei einem Rundgang auf der Didacta, sondern öffentlich und immer wieder!" Auch auf Bundesebene steht das Thema eher im Hintergrund: In den öffentlichen Debatten der letzten Wochen kamen Menschen mit Behinderung so gut wie nicht vor; weder bei den Ansprachen der Kanzlerin, noch bei Ministerpräsidenten oder den Expertengremien. Viele Betroffene und deren Familien fühlten sich schlicht vergessen.
Mit Sorge blicken sie in die nächsten Wochen. Nach den Sommerferien will die NRW-Landesregierung möglichst schnell zum Regelunterricht zurück, Grundschulen sollen die Unterrichtszeiten schon vor den Ferien ausweiten. Aber klar ist auch: Viele Lehrer werden fehlen, weil sie zur Risikogruppe zählen. Und auch wenn Ministerin Gebauer versichert, dass niemand benachteiligt werde, Eva-Maria Thoms von mittendrin e.V. ist skeptisch: Das System sei auf Kante genäht, sagt sie: "Wie wollen die Schulen damit zurechtkommen, wenn jetzt zusätzlich 15 Prozent der Lehrkräfte entfallen?"
Ihre Antwort fällt ernüchternd aus: "Unsere Erfahrung aus ein paar Jahren inklusiver Entwicklung ist: Immer, wenn es Engpässe gibt, wird die inklusive Schulentwicklung zurückgestellt." Sie fordert: "Die Krise darf nicht als Ausrede benutzt werden, die Inklusion zurück zu drehen! Wenn das Schulministerium da keine Vorkehrungen trifft, verlieren wir Jahre in der inklusiven Entwicklung!"