Noch sind die Toten nicht begraben, aber das Leben soll weitergehen in Brescia. Mitte März, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, wurde die norditalienische Stadt zusammen mit dem benachbarten Bergamo zum Synonym für das große Sterben. Aus Bergamo fuhren Militärlaster nächtens die Särge ab. In Brescia widmete Bischof Pierantonio Tremolada ganze Kirchen zu Leichenhallen um. Jetzt versucht die Wirtschafts- und Tourismusregion einen Neustart - mit einer schweren Hypothek.
Den Beginn einer "neuen Normalität" kündigte der Präsident der Lombardei, Attilio Fontana, am 18. Mai an. Wie in anderen Regionen Italiens öffneten wieder Restaurants, Geschäfte, Museen. Einen Vorsprung bekamen Friedhöfe. Am 11. Mai hielt Bischof Tremolada im Beisein von einigen Stadtoberen eine Messe für die 750 Verstorbenen, deren Urnen noch auf Beisetzung warteten. Seitdem laufen Trauerfeiern im Dreiviertelstundentakt - noch bis Anfang Juli.
"Die Bilder werden lange im Gedächtnis bleiben"
Montags bis freitags, von 8.30 bis 17.15 Uhr, sind im wöchentlichen Wechsel auf den elf kommunalen Friedhöfen Bestattungen angesetzt, Zeitvorgabe 45 Minuten, maximal 15 Teilnehmer. Inzwischen sind es auch "ein paar mehr", sagt Mario Calabrese, Wärter auf dem Hauptfriedhof Vantiniano. "Es läuft schon wieder normal."
Das klingt makaber für die, die sich um die wirtschaftliche Zukunft der Stadt sorgen. Brescia, Traditionsstandort für metallverarbeitende Industrie, lebte zunehmend auch vom Fremdenverkehr. An Übernachtungszahlen in der Lombardei belegte die malerische Stadt am Fuß der Alpen den zweiten Platz nach Mailand. Und jetzt die Särge. "Die Bilder werden lange im Gedächtnis bleiben", sagt Vizebürgermeisterin Laura Castelletti.
Mit der Lage zwischen Iseo- und Gardasee besitzt Brescia hohen Freizeitwert; das antike Forum und der Klosterkomplex San Salvatore-Santa Giulia gehören seit 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ausländische Reisende verbrachten nach jüngster Statistik im Schnitt vier Nächte hier, mehr als irgendwo sonst in der Lombardei. Gäste mochten Brescia.
Blick auf Reisen und Tourismus
Inzwischen verzeichnet der Ort mehr als 2.500 Corona-Tote. Castelletti ist dennoch zuversichtlich, dass diese "tragische Geschichte" nicht dauerhaft abschreckend wirkt. "Es werden neue Bilder dazukommen, wie auch in anderen Städten, die von Erdbeben oder Attentaten getroffen wurden".
Der Vorsitzende des Hotelierverbandes, Paolo Rossi, verweist auch auf die Umgebung. Der Gardasee etwa werde nicht mit der Pandemie assoziiert. Die Hauptschwierigkeit sieht er darin, den ganzen Sektor mit Flugangeboten, Verkehr und Dienstleistungen wieder zum Laufen zu kriegen. Bislang habe die Branche "alle Daten gegen sich". Obwohl die Ferienregion gerade einmal dreieinhalb Stunden von München entfernt liege, werde der Sommer ein "absolutes Last-Minute-Geschäft", sagt Rossi.
Und dann sind da noch die offenen Wunden in der Bevölkerung. Marco Mori, Pfarrer im Arbeiterviertel San Polo, erlebte in den vergangenen Wochen die Not von Alten, die sich in der Isolation das Leben nahmen. Er betete vor den Särgen im Krematorium, ein Ave Maria für jeden Verstorbenen; "am Ende wurde es ein Rosenkranz". Soziale Probleme sind gewachsen, Arbeiter im Stahlwerk Alfa Acciai gegenüber seiner Pfarrei fürchten um ihre Jobs.
Trauer in der Krise
Vor allem heißt es, den ausgefallenen Schmerz nachholen, sagt Mori, die Trauer über nicht stattgefundene Abschiede. Zugleich sieht er "viel Solidarität", oft eine stille, unauffällige Hilfsbereitschaft. Für den Priester passt das Wiederaufleben des Alltags, während noch die Urnen bestattet werden, zur pragmatischen Art der Brescianer: "Die beste Weise, der Verstorbenen zu gedenken, ist, gemeinsam das Leben neu zu beginnen."
Zusammenarbeit ist für Vizebürgermeisterin Castelletti auch über die Stadtgrenzen hinaus wichtig. Sie lobt die deutsche Partnerstadt Darmstadt, die während des Notstands mit Intensivbetten aushalf und Brescia auch mit Geldspenden zur Seite stand, "mehr als andere italienische Regionen".
Mit Bergamo, der anderen lombardischen Gemeinde, die zum Symbol des Todes wurde, bewirbt sich Brescia im Tandem um den Titel der italienischen Kulturhauptstadt 2023. Beide Städte investierten seit Jahren in das Territorium und den Kulturtourismus, so die stellvertretende Stadtchefin. Jetzt sei es "sehr natürlich", daraus ein Modell für die Zeit nach der Krise zu entwickeln. "Brescia hat eine starke, kompakte Gemeinschaft und weiß sich aufzurappeln", sagt Castelletti. Unterdessen meldet das Gesundheitsamt wieder steigende Fallzahlen.