DOMRADIO.DE: Sie machen seit Jahren auf die Situation der Arbeitsmigranten in Schlachtbetrieben aufmerksam. Am Wochenende haben Sie bei uns im DOMRADIO in unserer Sendung "Menschen" erzählt, warum diese Branche so kritisch zu sehen ist. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von diesem neuen Fall bei Tönnies gehört haben?
Peter Kossen (Sozialpfarrer in der Kirchengemeinde Seliger Niels Stensen in Lengerich): In diesen Dimensionen habe ich das nicht geahnt. Diese 650 Betroffenen, vielleicht sind es sogar noch mehr, sind ja auch kaum zu fassen. Allerdings habe ich auch gedacht, dass es absehbar war. Leider war das so absehbar, weil die Strukturen die Bedingungen der Arbeit und auch des Wohnens so sind, wie sie sind. Und das bedeutet meines Erachtens zugleich, dass es gar nicht bei Rheda-Wiedenbrück stehenbleibt. Es wird noch weitergehen.
DOMRADIO.DE: Können Sie die Zustände beschreiben, in denen die Mitarbeiter und vor allem die Arbeitsmigranten leben?
Kossen: Sie arbeiten zehn Stunden am Tag, manchmal auch zwölf, sechs Tage in der Woche. Das sind schwerste Arbeiten, die auch unter Druck ausgeführt werden. Oft beschreiben Leute, die in der Fleischindustrie arbeiten, dass sie ständig vom Vorarbeiter Druck bekommen, dass sie ständig mit der Angst leben, rausgeschmissen zu werden, den Erwartungen nicht Genüge zu tun. Das sind Arbeitsbedingungen, die die Menschen sehr mitnehmen und sie sehr stark überstrapazieren.
DOMRADIO.DE: Von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet kam die Aussage, die Mitarbeiter aus Rumänien und Bulgarien haben das Virus eingeschleppt und den Ausbruch mitverursacht (Laschet hat sich mittlerweile entschudligt; Anm. d. Red). Auch der Betrieb selbst vermutet das ja. Wie problematisch finden Sie solche Schuldzuschreibungen?
Kossen: Das finde ich ganz problematisch, ehrlich gesagt. Und das enttäuscht mich auch vom Ministerpräsidenten, weil sein Arbeitsminister da ganz anders Partei ergreift. Und dafür bin ich Herrn Laumann auch sehr dankbar, dass er die Schuldigen deutlich beim Namen nennt. Wenn wir da nicht sehr aufpassen in dieser Diskussion, wer denn wohl das Virus gebracht hat, dann sind wir schnell in einer rassistischen Debatte. Wir können uns das Virus, das wissen wir doch, überall einfangen. Natürlich kann das jemand auch aus Rumänien oder Bulgarien mitgebracht haben, aber er kann es auch vom nächsten Discounter mitgebracht haben.
Und wenn das dahin geht, dass Herr Tönnies die Schuld von sich weisen kann und den Rumänen, Bulgaren zuschieben kann, dann ist das eine ganz zynische und eine ganz schräge Nummer. Denn wir machen dann aus Opfern Täter. Die Schuldigen sind die Sklaventreiber und nicht die Sklaven hier bei uns. Und da muss man die Verantwortung suchen.
DOMRADIO.DE: Wie können denn Lösungen aussehen? Vor allem die Werkverträge werden ja aktuell besonders kritisch gesehen. Die Bundesregierung will jetzt reagieren. So sollen zum Beispiel ab 2021 keine Werkverträge in der Branche mehr möglich sein. Wird das große Veränderungen mit sich bringen?
Kossen: Das ist auf jeden Fall ein wichtiges Signal und ein wichtiger erster Schritt. Man wird auch über Wohnungen sprechen müssen. Dass man von diesen elenden Behausungen wegkommt, das wäre damit noch nicht gelöst. Aber es wäre ein Schritt, der auch nochmal deutlich macht: Wir lassen es in Deutschland nicht mehr zu, wie es bisher an vielen Stellen der Fall ist, dass wir so einen Graubereich haben, in dem Dinge möglich sind, die eigentlich in Deutschland noch nie legal waren. Die Ausbeutung von Arbeitskräften und das Verschleißen von Menschen.
Wenn diese jetzt in die Stammbelegschaft übernommen werden, wenn die Bundesregierung das wirklich erzwingen kann, dann sind sie wieder im Radar der Arbeits- und Sozialgesetzgebung und auch auf dem Schirm eines Betriebsrates oder einer Gewerkschaft oder einer Berufsgenossenschaft. Und damit wäre schon eine Menge für die Leute erreicht.
Das kann nicht der letzte Schritt sein, denn auch andere Branchen arbeiten mit ähnlichen Strukturen. Und wie gesagt, es geht auch um Wohnungen, es geht um Transport. Es geht darum, ob die Leute in unserer Gesellschaft ankommen, ob sie die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen und teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben. Es ist ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt.
Das Gespräch führte Verena Tröster.