KNA: Frau Franzen, wie wirken sich die andauernden Kontaktbeschränkungen beispielsweise auf das Verhältnis zu Freunden aus?
Martina Franzen (Soziologin des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen): Das hängt davon ab, inwiefern man auch vor Corona ein funktionierendes Freundschaftsnetz hatte, das man jetzt in virtueller Form über diese Zeit tragen konnte. Wir haben heute zum Glück vielfältige Kontaktmöglichkeiten. Es gibt nicht nur Videotelefonie, sondern auch über soziale Netzwerke war die Kontaktpflege in Zeiten der Kontaktbeschränkung möglich. Aber für diejenigen, die bereits sozial isoliert waren, war das natürlich ein Moment verstärkter Einsamkeit und damit psychisch belastend.
Eine Erhebung aus Großbritannien etwa zeigt einen Rückgang der Lebenszufriedenheit in der Gesellschaft insgesamt. Davon sind Jugendliche am stärksten betroffen. Denn Jugendliche leben Sozialität oft ganz anders als beispielsweise ein älteres Ehepaar, das zurückgezogen lebt. Die Auswirkungen der politischen Einschränkungen sind vermutlich dort am negativsten spürbar, wo sie zu einer größtmöglichen Differenz zum bisherigen privaten und beruflichen Alltag führten.
KNA: Ist dieser Rückgang der Lebenszufriedenheit nachhaltig oder kehrt diese wieder zurück?
Franzen: Das hängt sicher von der Krisendauer ab. Wenn eine zweite Pandemiewelle kommt, werden sich diese Auswirkungen noch viel stärker verfestigen. Momentan sind wir mit den gelockerten Bestimmungen in einer Phase der Rückkehr zur Normalität. Wenn wir keine zweite Welle erfahren, war das ein temporäres Ereignis, das individuell und gesellschaftlich austariert wird. Aber wenn wir tatsächlich bis zur Entwicklung eines Impfstoffes in eine neue Lockdown-Situation geraten, muss man darüber noch mal anders reden.
KNA: Inwiefern verändert die Corona-Pandemie unseren Umgang mit fremden Menschen, beispielsweise in der Bahn oder im Supermarkt?
Franzen: Was die Abstandsregelungen angeht, pflegen wir schon seit jeher kulturelle Gewohnheiten, die sich von Land zu Land unterscheiden. Manch eine Distanzregel werden wir deswegen aus fast kulturellen Gründen vielleicht unbewusst fortführen. Wir werden uns in Zukunft beispielsweise nicht wohlfühlen, wenn wir mit vielen unbekannten Menschen Fahrstuhl fahren und uns im öffentlichen Raum eher auf Freiräume fokussieren.
Das Tragen von Masken wird sich meiner Ansicht nach nicht zu einer alltäglichen Routine entwickeln. In Japan werden Masken aus gesundheitlichen, aber auch kulturellen oder sozialen Gründen getragen. Für uns hierzulande ist es neu und gewissermaßen eine Belastung. Es ruft bei uns Unsicherheiten hervor, wenn wir die Mimik unseres Gegenübers nicht erkennen können. Umgekehrt fühlen wir uns in unserer ganzen Präsenz eingeschränkt. Wir können uns weniger gut ausdrücken, Kommunikation ist erschwert. Sobald das Gesundheitsrisiko minimiert ist, werden wir uns sicher auch schnell wieder von den Masken befreien.
KNA: Verlieren wir durch die Bestimmungen wie das Abstandhalten und die Kontaktbeschränkungen ein Stück weit unsere soziale Kompetenz?
Franzen: Im Gegenteil - unsere soziale Kompetenz wird derzeit vielfach herausgefordert, indem wir stärker auf Höflichkeitsnormen setzen als vorher. Man erlebt, von Ausnahmen abgesehen, einen respektvollen Umgang miteinander im öffentlichen Raum, der U-Bahn und im Supermarkt. Rücksichtnahme und Solidarität, die Instrumente der sozialen Kompetenz, sind durch die Krise eher geschult worden, als dass wir sie verloren glauben müssten.
Im digitalen Raum müssen wir uns neue soziale Kompetenzen aneignen. Während wir uns bei Face-To-Face-Kontakten sehr leicht mit Mimik und Körpersprache verständigen können, müssen wir unsere soziale Kompetenz nun mit anderen Mitteln im virtuellen Bereich schulen.
KNA: Sind wir durch die Corona-Pandemie als Gesellschaft digitaler geworden?
Franzen: Man kann mit Sicherheit sagen, dass wir ein riesiges Experimentierfeld der Digitalisierung begangen haben. In Deutschland war sehr viel Nachholbedarf dazu, wie man sich speziell für die Arbeitswelt rüstet. Ich glaube, da hat die Gesellschaft sehr viel gelernt. Was aber nicht heißen soll, dass all das analoge Leben ins Digitale transferiert werden kann.
Wir brauchen nach wie vor Face-to-Face-Interaktionen, aber man könnte beispielsweise aus dieser Erfahrung lernen, dass man nicht allein aus Klimaschutzgründen Mobilität zurückfährt, wenn sie nicht unbedingt notwendig ist. Man müsste diese Erfahrung resümieren und überlegen, wie man aus beiden Welten - der digitalen und der analogen - zu besseren Arbeitsbedingungen und Bildungserfolgen kommt.