DOMRADIO.DE: Der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I.m hat sich deutlich gegen die Umwandlung positioniert. Haben Sie den Eindruck, dass die anderen christlichen Konfessionen sich deutlich genug an die Seite des Patriarchen stellen?
Martin Lessenthin (Sprecher des Vorstandes der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte): : Nein, ich denke den Eindruck kann niemand haben. Wir wünschen uns ein offenes, deutliches Wort, bevor es zu spät ist, von den Kirchen in Deutschland und natürlich auch aus dem Vatikan. Erdogan muss vorher nochmal Signale bekommen, damit er seinen Teil leisten kann. Denn, wie wir alle wissen, sind die türkischen Gerichte nicht so unabhängig. Man weiß vorher nie, ob ein Richter dem politischen Druck nachgibt oder nicht.
DOMRADIO.DE: Warum wird immer wieder über die Hagia Sophia gestritten?
Lessenthin: Die Hagia Sophia ist in vieler Hinsicht ein Symbol. Zum Beispiel ein Symbol der Eroberung, der Inbesitznahme von Konstantinopel, von Istanbul, durch die Türkei, natürlich auch kriegerisch. Die Türkei ist heute ein Land, das viele Kriege führt. Türkische Soldaten kämpfen in Nordafrika, in Libyen, und sie kämpfen auch in Syrien. Sie bombardieren zum Beispiel auch den Nordirak.
Die Hagia Sophia als ein Symbol gelungener Eroberung, dass sich die Türkei militärisch durchsetzen kann, ist deswegen heute von ganz besonderer Bedeutung. Sie steht im Grunde sinnbildlich nicht nur für die Unterwerfung des Christentums durch diese Art von Islam, wie sie heute auch von Erdoğan repräsentiert wird, sondern auch für weitere Gebietsansprüche und die Ausweitung der großen Regionalmacht Türkei.
DOMRADIO.DE: Das Gericht hat sich noch nicht geäußert, wie es sich entschieden hat. Was würde denn die Rückwandlung in eine Moschee bedeuten?
Lessenthin: Die würde innenpolitisch in der Türkei natürlich bedeuten, dass die Minderheiten noch mehr gedeckelt sind und dass sie tatsächlich Menschen zweiter Klasse sind. Dass Christen nicht in der gleichen Weise partizipieren können, wie Muslime. Das trifft auch gleichzeitig andere Minderheiten, die es in der Türkei gibt. In einer kleineren Größenordnung Jesiden und Juden und die große Minderheit der Aleviten. Es ist vor allem auch ein Zeichen dafür, dass die Türkei sich endgültig abgekehrt hat von der Politik eines Atatürk, wo die Religion nicht die staatstragende Rolle spielte, sondern die Politik das Geschehen gesellschaftlich bestimmt hat. Heute haben wir eine Verquickung von Religion und Politik manifestiert in Erdoğan und seiner AKP.
DOMRADIO.DE: Das Urteil zur Hagia Sophia fällt in eine Zeit, in der Sie als Menschenrechtsorganisation auch den Umgang mit anderen Minderheiten in dem Land kritisieren. Präsident Erdoğan ist nach wie vor der starke Mann in der Türkei. Warum genau ist er denn im Umgang mit Minderheiten so wenig großzügig?
Lessenthin: Er möchte zeigen: Das hier ist Türkentum. Türkentum ist kein bisschen kurdisch, Türkentum ist natürlich auch nicht jesidisch, christlich oder jüdisch. Das sind alles keine richtigen Türken - und keine richtigen Türken sind auch die liberalen Muslime, vor allem die Aleviten.
Der gestrige Tag, der noch keine finale Entscheidung über den zukünftigen Status der Hagia Sophia gebracht hat, ist ein wichtiger Tag in der jüngeren türkischen Geschichte. Es ist der Tag, an dem die Aleviten an das Massaker von Sivas gedenken, wo fundamentalistische Muslime durch Brandschatzung in einem Hotel 35 Aleviten ums Leben gebracht haben. Sie verlangen ein Gedenken daran und die Anerkennung eines Massakers, eines Genozids an Aleviten. Das wird ihnen von Erdoğan verweigert. Im Gegenteil: Erdoğan hat erst kürzlich einen der Täter amnestiert und aus dem Gefängnis entlassen.
Das Interview führte Julia Reck.