Das Cello rettete Anita Lasker Wallfisch in Auschwitz das Leben

Musik gegen die Welt des Schreckens

Im Mädchenorchester von Auschwitz spielte Anita Lasker-Wallfisch jeden Tag Cello. Ihre Leidensgeschichte hielt die deutsch-britische Jüdin lange verborgen. Bis sie begann, zur Rednerin gegen den Hass zu werden.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Anita Lasker-Wallfisch / © Henning Schoon (KNA)
Anita Lasker-Wallfisch / © Henning Schoon ( KNA )

69388: Lange wissen die Kinder nichts über die Bedeutung der Tätowierung auf dem Arm ihrer Mutter. Erst spät, in den 1990er Jahren, beginnt Anita Lasker-Wallfisch mit ihren Kindern und mit der Welt über ihr bewegtes Leben zu sprechen. Am Freitag wird die Cellistin deutsch-jüdischer Abstammung und Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen 95 Jahre alt.

Die Familie

Es ist ein bildungsbürgerliches, deutsch-jüdisch-assimiliertes Elternhaus in Breslau (Wroclaw), in das Anita Lasker 1925 als jüngste von drei Töchtern geboren wird. Eines, in dem man gemeinsam Musik macht, Klassiker wie Goethe und Schiller liest und selbstverständlich Französisch spricht. Nicht sehr gläubig, dafür "kulturverrückt". Die Mutter: Geigerin.

Begeistert deutsch ist ihr Vater, der Rechtsanwalt, der im Ersten Weltkrieg gedient hat und die Gefahr durch die Nazis spät, zu spät erkennt. Während es den Eltern gelingt, die älteste Tochter Marianne mit einem der Kindertransporte nach England zu retten, werden sie selbst 1942 ins Ghetto Izbica bei Lublin deportiert und ermordet.

Zwangsarbeit in einer Papierfabrik und in Auschwitz

Anita und Schwester Renate kommen in ein Waisenhaus, leisten Zwangsarbeit in einer Papierfabrik, wo sie Papiere fälschen, um französischen Kriegsgefangenen zur Flucht zu verhelfen. Sie habe es nicht hinnehmen wollen, wegen ihrer jüdischen Herkunft getötet zu werden, wird sie später sagen. "Deshalb beschloss ich, den Deutschen einen besseren Grund zu geben."

Die eigene Flucht mit selbstgefälschten Ausweisen geht schief, noch am Bahnhof werden die Mädchen im September 1942 verhaftet. Das Urteil lautet: Zwangsarbeit - achtzehn Monate für Anita, dreieinhalb Jahre für die ältere Renate. Ausgerechnet die Strafe, die sie zu Kriminellen macht, verschont sie in Auschwitz vor Selektion an der Rampe. Stattdessen spielt Anita Cello im Mädchenorchester von Auschwitz.

Musik prägt ihr Leben

Sie spielt tagein, tagaus zum morgendlichen Auszug der Häftlinge aus dem Lager und für deren abendliche Rückkehr. An Wochenenden und zu besonderen Anlässen gibt sie Konzerte für die SS. Sie spielt für den KZ-Arzt Josef Mengele. Die Privilegien, die ihr das Cello - ein schwer ersetzbares Instrument - bringen, schützen auch Renate.

Das Orchester, sagt Anita Lasker-Wallfisch in Interviews, habe ihr "mehr Zeit" gegeben, Zeit zum Überleben - denn wer Musik wolle, stecke nicht die Musiker in die Gaskammern. Die jungen Frauen überleben Auschwitz und Bergen-Belsen. Nur einen Tag nach der Befreiung von Bergen-Belsen am 15. April 1945 schildert Anita Lasker als eine der ersten Überlebenden in einer Radioansprache das Grauen der Lager.

Im ersten deutsche Kriegsverbrecherprozess 1945 in Lüneburg sagt sie aus. Elf Angeklagte werden am Ende des Prozesses hingerichtet. Anita und Renate gelangen mithilfe von Marianne über Brüssel nach England. Musik soll weiterhin ihr Leben prägen, privat wie beruflich. Anita studiert Musik, heiratet den Pianisten Peter Wallfisch, macht als Cellistin Karriere, ist Mitbegründerin des Londoner "British Chamber Orchestra".

Zeitzeugin gegen den Hass

Ihre Leidensgeschichte behält sie für sich. Die "Welt des Schreckens", wie sie die Zeit des Holocaust nennt, will sie ihren Kindern ersparen. Erst 1994 betritt sie erneut Deutschland. Unüberhörbar wird sie zur Zeitzeugin gegen den Hass, erzählt Jugendlichen immer wieder ihre Geschichte, veröffentlicht ihre Erinnerungen unter dem Titel "Ihr sollt die Wahrheit erben".

Für ihr Engagement erhält sie 2016 den "Preis für Verständigung und Toleranz" des Jüdischen Museums Berlin, 2019 den Deutschen Nationalpreis. Beim Kampf gegen den "zweitausend Jahre alten Virus" des Antisemitismus komme sie sich vor wie eine "Ameise, die den Mount Everest besteigen will", sagt sie in ihrer Dankesrede.

Die Wahrheit hat Anita Lasker-Wallfisch den Nachgeborenen weitergegeben - und ihren Kindern ganz offenbar die Liebe zur Musik: Sohn Raphael ist Cellist wie die Mutter, auch die Enkel Simon und Benjamin sind Musiker. Einen festen Platz hat eine dringende Mahnung in Lasker-Wallfischs Einsatz gegen das Vergessen und für eine bessere Welt: Bevor ihr euch totschlagt, geht Kaffe trinken. Sprecht miteinander, baut Brücken. Und man möchte hinzufügen: Macht Musik!


Quelle:
KNA
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