Die Vorwürfe gegen Pater Josef Kentenich (1885-1968) wiegen schwer: Machtmissbrauch, systematische Manipulation, sexuelle Übergriffe. Ausgerechnet der Gründer der internationalen katholischen Schönstatt-Bewegung, ein Glaubensvorbild für viele tausend Menschen weltweit, soll derartige Taten begangen haben. Das jedenfalls schreibt die in Rom tätige Kirchenhistorikerin Alexandra von Teuffenbach. In einem jüngst in der "Tagespost" erschienenen Artikel beruft sie sich auf jahrzehntealte Dokumente aus den Archiven des Vatikan.
Die Bestände aus der Zeit des Pontifikats von Papst Pius XII. (1939-1958) wurden im März freigegeben und können seither zu Forschungszwecken begutachtet werden. Was von Teuffenbach dabei gefunden hat, wirft - nach ihrer Interpretation - ein neues Licht auf Leben und Wirken Kentenichs. "Verschiedene gut gehütete Geheimnisse" könnten nun gelüftet werden, so die Expertin. Nach dem Aktenstudium erscheine der populäre Geistliche, den auch die Deutsche Bischofskonferenz zu seinem 50. Todestag als "große Gründergestalt" würdigte, eher als "fragwürdige Gestalt".
Exil Kentenichs in den Vereinigten Staaten
Bisher las sich die - öffentlich gängige - Version seiner Vita so, als sei es bei einer vatikanischen Untersuchung Anfang der 1950er Jahre hauptsächlich um theologische Fragen gegangen. Schließlich erregten etliche spirituelle Elemente der 1914 gegründeten Schönstatt-Bewegung schon früh den Argwohn der Amtskirche.
Diese "Sonderideen" veranlassten das Heilige Offizium, so die damalige Bezeichnung der Glaubenskongregation, 1951 zu einer päpstlichen Visitation. Der damit beauftragte Theologe Sebastian Tromp, ein niederländischer Jesuit, traf eine einschneidende Verfügung: Kentenich wurde, auch das ist bekannt, von seinem Werk getrennt und ging ins Exil in die Vereinigten Staaten.
"Vorgefundene Missstände klar dargestellt"
Doch was genau bewog den Vatikan zu der Verbannung, die Papst Paul VI. erst 1965 aufhob? "Die wahren Gründe für die Exilierung Kentenichs", schreibt von Teuffenbach, seien in den vergangenen 70 Jahren nicht bekanntgegeben worden. Doch jetzt sei es anhand der freigegebenen Dokumente möglich, "die Sachlage zu klären". Die Wissenschaftlerin kommt zu dem Schluss, dass Visitator Tromp "im Grunde keine schweren theologischen Bedenken" gegen die Schönstatt-Bewegung gehabt habe. "Sehr klar" habe er hingegen andere "vorgefundene Missstände" dargestellt.
Diese hätten vor allem mit den Schönstätter Marienschwestern zu tun. Von Teuffenbach beschreibt sie als "hilflose erwachsene Frauen", die von "Vater" Kentenich zu Kindern erniedrigt worden seien. Er habe jedes Detail ihres Lebens kontrolliert, sie psychisch unter Druck gesetzt und zur Beichte bei ihm selbst gezwungen. Den Akten entnimmt die Historikerin, dass es auch zu sexuellen Verfehlungen gekommen sei. Eine der Frauen habe versucht, sich dagegen zu wehren. Dennoch seien die Geschehnisse ein "Familiengeheimnis der Marienschwestern" geblieben.
Diskussion um Missbrauch
Tromp versuchte den Ausführungen zufolge, die Schwestern von der "krankhaften Beziehung zum Gründer" zu befreien - ohne dessen Reputation zu zerstören. Folgt man von Teuffenbach, ist die Verbannung Kentenichs also in Wahrheit vor dem Hintergrund einer Missbrauchsgeschichte zu betrachten. Die anderslautende Begründung des Heiligen Offiziums führt sie darauf zurück, dass keiner der Beteiligten bloßgestellt werden sollte.
Die Schönstatt-Bewegung weist diese Darstellung entschieden zurück. Das Generalpräsidium hat in den vergangenen Tagen gleich zwei Erklärungen verfasst. Die vorgebrachten Beschuldigungen seien schon lange bekannt und entkräftet worden, heißt es darin.
Anlässlich des 1975 eingeleiteten Seligsprechungsverfahrens für Kentenich habe obendrein eine erneute Prüfung stattgefunden. "Hätten Zweifel an der moralischen Integrität des Gründers Schönstatts weiter bestanden, wäre das Exil nicht beendet worden und hätte der Vatikan ein Nihil obstat (Unbedenklichkeitserklärung) zur Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens nicht erteilt", so die Argumentation.
"Vage Aussagen und forsche Behauptungen"
Die Gemeinschaft wirft von Teuffenbach vor, sie habe sich die Sicht des Visitators ganz zu eigen gemacht und alle weiteren Aktenstücke - ebenso entlastendes Material - aus dieser Perspektive interpretiert. "Vage Aussagen, gepaart mit der forschen Behauptung eines sexuellen Missbrauchs zeugen nicht von einer sachlich angemessenen Auseinandersetzung mit den Akten", kritisiert das Generalpräsidium. Die Historikerin spiele "auf der Klaviatur der aktuellen Missbrauchsdebatte" - ohne die ganze Geschichte Kentenichs zu kennen und zu vermitteln.
Von Teuffenbach entgegnet, sie könne nicht schweigen, solange ein Kult um eine Person betrieben werde, "deren Leben man in wesentlichen Aspekten verschweigt". So werde der einfache Gläubige getäuscht. "Hätte es eine entsprechende Publikation gegeben, wären die Veröffentlichungen meinerseits nicht nötig gewesen", versichert sie. Da das aber nicht geschehen sei, "sah ich mich gedrängt, die Biografie des Gründers, dessen Kult das Schönstattwerk betreibt, um einige Elemente zu ergänzen".
Forderung nach Klärung der Dokumente
Das Argument des "Nihil obstat" überzeugt die Autorin nicht. Nach ihrer Auffassung ist es "allein aufgrund der vom Schönstattwerk vorgelegten Akten" erfolgt und ohne eine umfassende Studie. Sie fordert die Gemeinschaft auf, alle zur Klärung notwendigen Dokumente "in den nächsten Tagen" im Internet zu veröffentlichen. Das werde die Bearbeitung für alle Beteiligten erleichtern.
Wer auch immer in dem Streit Recht behält, eines dürfte feststehen: Sollten sich die Vorwürfe gegen Kentenich nur ansatzweise als berechtigt erweisen, hat sich das Seligsprechungsverfahren erledigt. Alles andere wäre mit der von Papst Franziskus postulierten "Null-Toleranz-Politik" in Sachen Missbrauch nicht vereinbar.
Klarheit soll eine Historiker-Kommission schaffen. Das kündigte jetzt der Trierer Bischof Stephan Ackermann an. In einer Mitteilung des Bistums hieß es, dass "nach der weiteren Öffnung der vatikanischen Archive Dokumente einsehbar sind, die bislang für die diözesane Untersuchung im Seligsprechungsverfahren für den Gründer der Schönstatt-Bewegung nicht zugänglich waren".