DOMRADIO.DE: Sie sagen, Regelsätze von 439 Euro reichen nicht.
Dr. Ulrich Schneider (Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes): Nein, auf keinen Fall.
DOMRADIO.DE: Welche Summe würde denn Ihrer Ansicht nach reichen?
Schneider: Wir sind noch am Rechnen. Das Ergebnis können wir in drei Wochen wohl vorstellen. Es werden aber auf jeden Fall deutlich über 600 Euro sein, die rauskommen würden, würde man auf die ganzen Tricks und Kleinrechnereien verzichten, die das Ministerium bei der Ermittlung der Regelsätze, man muss schon fast sagen, regelmäßig vornimmt.
DOMRADIO.DE: Das ist ja schon deutlich mehr. Warum so viel mehr? Dieser Hartz IV-Satz sollte doch eigentlich nur als Übergang gelten – und nicht als dauerhafter Zustand. Da könnte doch noch etwas passieren in Zukunft.
Schneider: Erstens trifft das für viele überhaupt nicht zu. Diese Regelsätze gelten ja nicht nur in Hartz IV. Diese Regelsätze gelten auch für die Altersgrundsicherung und für die Grundsicherung für erwerbsgeminderte Menschen, die nicht mehr arbeiten können. Das sind eine Million Menschen. Für die bedeutet der Absturz in die Grundsicherung in aller Regel, dass sie die lebenslänglich beziehen.
Dazu kommt, dass wir bei Hartz IV die Situation haben, dass mittlerweile die Hälfte Langzeitbezieher sind. Das sind also Familien oder Einzelpersonen, die vier, fünf, sechs oder noch mehr Jahre in Hartz IV zubringen. Also die alte Idee, die uns damals bei der Agenda versprochen wurde, trifft nicht zu. Da wurde gesagt: Die Menschen werden nur ganz kurz in die Armut gedrückt werden, um dann umso motivierter zu sein, zu arbeiten. Dann wären sie ganz schnell wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das hat alles nicht funktioniert.
Ich glaube, es war auch den meisten klar, dass das nie funktionieren wird. Tatsächlich ist bei diesen Regelsätzen mit 439 Euro für Alleinlebende – für Kinder sind es ja wesentlich weniger – Armut die Folge.
DOMRADIO.DE: Können Sie den Zusammenhang von Kinderarmut und Hartz IV-Satz noch einmal deutlich machen? Wo ist da das größte Problem?
Schneider: Das Problem besteht darin, dass Hartz IV bedeutet, dass die Familien häufig wirkliche Existenzängste haben. Die wissen in der Hälfte des Monats nicht mehr, wie es weitergehen soll. Jeder Brief, der da kommt, wo eine Rechnung drin sein könnte, löst Panik aus. Wenn was kaputt geht, wenn die Kinder plötzlich was brauchen, weiß man nicht, wie man es bezahlen soll.
Es kann nicht gut sein für das Aufwachsen eines Kindes, immer unter dieser Existenzangst zu leben und mitzubekommen, wie die Eltern Angst haben. Hinzu kommt ganz praktisch: Diese Kinder, die von diesen Armutssätzen leben sollen, sind faktisch ausgegrenzt. Sie können nicht teilhaben, sie können nicht mitmachen, wenn andere mal ins Kino gehen. Sie können nicht mitmachen, wenn andere mal ins Konzert gehen. Auch bei einem Ausflug müssen sie zu Hause bleiben. Denn all diese Dinge sind aus den Regelsätzen herausgestrichen worden, weil das Ministerium der Ansicht ist: So etwas brauchen arme Menschen nicht.
DOMRADIO.DE: Sie haben da von Tricks gesprochen eingangs, mit denen die Bundesregierung arbeitet. Welche Tricks sind das?
Schneider: Das ist statistisch nicht ganz einfach rüberzubringen, wie der Hartz IV-Satz zustande kommt. Es werden die untersten 20 Prozent der Einkommensskala betrachtet – also die 20 Prozent, die am wenigsten Einkommen haben in Deutschland. Da wird abgeleitet: Wofür geben die eigentlich Geld aus. So wurde das zumindest früher gemacht. Dann wurde das der Bundesregierung vor einigen Jahren zu viel. Dann hat sie gesagt, wir nehmen nicht mehr die untersten 20 Prozent, wir nehmen nur noch die untersten 15 Prozent. Dann rutscht natürlich prompt der Regelsatz nach unten.
Das ist dann aber noch immer zu viel. Dann wird geschaut, was noch herausgestrichen werden kann. Dann wird es wirklich knauserig. Da wird etwa der Betrag rausgestrichen, der da in der Statistik auftaucht für eine Reinigung, weil die sagen: Arme Menschen brauchen nichts zur Reinigung zu bringen. Auch werden Kleinstbeträge etwa für Schnittblumen oder für Grabschmuck herausgestrichen. Und dann werden mehr Kleinstbeträge herausgestrichen: selbst für Hamsterfutter, Schmuck oder einen Ausflug mit der Pfarrgemeinde. Dann geht es so richtig ans Eingemachte.
Was dann noch übrig bleibt, dieser mickrige Satz, das ist dann der Regelsatz für die Armen. Da sagen wir: Das ist statistisch betrachtet eine üble Trickserei, denn so kann man statistisch einfach nicht arbeiten. Entweder ich nehme 15 oder auch 20 Prozent, aber dann bleibe ich auch dabei. Aber ich kann da nicht nochmal reingehen und einzelne Positionen streichen. Das weiß jeder Statistiker. Dann haut es mir das ganze Kartenhaus um.
DOMRADIO.DE: Anfang Januar 2021 soll der Satz ja angehoben werden. Generell dann alle fünf Jahre wird er anhand einer neuen sogenannten Einkommens- und Verbraucherstichprobe festgesetzt. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden, oder sind da kürzere Abstände Ihrer Ansicht nach die bessere Lösung?
Schneider: Ich halte das ganze Verfahren für abwegig. Diese Einkommens- und Verbrauchsstatistik hat doch mit dem, was ein Mensch braucht, überhaupt nichts zu tun. Wenn die Armen statistisch immer ärmer werden, dann werden die Regelsätze auch immer geringer. Die Logik ist ja: Wenn ich feststelle, ein armer Mensch gibt für Kultur kaum Geld aus, weil er nichts hat. Der muss erst mal Essen und Kleidung besorgen. Dann heißt das aber nach dem logischen Statistikmodell, dass er überhaupt keine Kultur will. Dann wird eben Kultur gestrichen im Regelsatz, und das ist ein derartig abwegiges Verfahren.
Unsere Forderung vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ist: Wir brauchen eine Kommission. Auch viele andere, wie der VdK Deutschland, stellen diese Forderung. Wir brauchen eine unabhängige Kommission, die endlich mal der Frage nachgeht: Was braucht ein Mensch eigentlich, um über den Monat zu kommen? Und insbesondere: Was brauchen Kinder, um über den Monat zu kommen und auch schulisch mithalten zu können? Denn dieser Frage geht die Methode der Bundesregierung, das statistische Modell, überhaupt nicht nach.