DOMRADIO.DE: Bei der gewaltigen Detonation im Hafen von Beirut am 4. August sind viele Menschen ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt und mindestens 100 Menschen werden noch vermisst. Schuld sei eine große Menge Ammoniumnitrat, die explodiert sei. "So schlimme Bilder haben wir seit dem Bürgerkrieg nicht gesehen" - heißt es. Ist da was dran?
Marc Frings (Nahost-Experte und Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken): Das stimmt mit Sicherheit. Der Libanon ist ein sehr fragiles Land, das nun von dieser massiven Krise heimgesucht wurde. Allerdings ist die Krise so tief in der DNA des Libanon, dass man sagen muss, dass man auch diese Aussage: "So schlimm war es seit dem Bürgerkrieg nicht mehr", sehr oft hört.
In den letzten 20 Jahren gab es massive Herausforderungen, immer wieder aufs Neue. Man denke an die Abhängigkeit von Syrien, an die verschiedenen Kriege, auch mit Israel, oder die vielen Geflüchteten, die ins Land gekommen sind. Seit letztem Herbst kommt es immer wieder zu Protesten und Demonstrationen gegen die Politik und die Verantwortlichen, denen man nicht zutraut, tatsächlich etwas zu bewegen. Insofern muss man leider sagen, dass man immer wieder eine Situation hat, in der man denkt, noch tiefer kann man nicht mehr fallen.
DOMRADIO.DE: Die Explosionen jetzt haben ein Land erschüttert, das ohnehin schon auf äußerst wackeligen Beinen steht. Was macht die aktuelle Krise jetzt aus?
Frings: Grundsätzlich ist der Libanon ein sehr fragiles Land, was auch daran liegt, dass es eine sehr ausgeklügelte, sehr kleinteilige Machtarithmetik gibt, die versucht, durchdacht die vielen Bevölkerungsgruppen mit fast 20 Religionsgemeinschaften zu inkludieren. Klientelismus und Nepotismus ist etwas, was wir in vielen Staaten der Region beobachten und als Wesensmerkmale auch beschreiben würden. Aber im Libanon hat diese konfessionelle Posten-Teilung letztlich auch System.
So hat man nach dem Bürgerkrieg das Land befriedet. Aber heute ist das System vor allem auch Anlass für Unzufriedenheit und Zorn, weil es offenbar - vor allem aus Sicht der jungen Libanesen - nicht in der Lage ist, auf die Herausforderungen zu reagieren. Es sind vor allem Wirtschafts- und Finanzfragen. Das Land ist im Grunde genommen pleite. Die Landeswährung hat komplett an Wert verloren. Von über 80 Prozent ist die Rede. Man kann nicht mehr wirklich importieren.
DOMRADIO.DE: Was macht das mit den Menschen?
Frings: Man steht vor einer massiven Arbeitslosigkeit und hat dazu noch die humanitäre Krise aufgrund eines massiven Zuzugs von Flüchtlingen: 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge sind im Libanon untergekommen. Hinzu kommen die palästinensischen Flüchtlinge, das sind noch einmal eine halbe Million Menschen. Nach der Explosion am 4. August ist eine Viertelmillion obdachlos geworden, und das sind erst vorläufige Schätzungen. Es gibt einen hohen Grad an Unzufriedenheit. Und das alles passiert in der Corona-Krise, die auch den Libanon betrifft, sodass wir weiterhin von einem Abwärtstrend sprechen müssen.
DOMRADIO.DE: Sollte die These stimmen, dass da enorme Mengen an Ammoniumnitrat in die Luft gegangen sind, was würde das bedeuten?
Frings: Das bedeutet, dass unabhängig von den politischen Spekulationen, die weiterhin auch Raum greifen, dass die Anschuldigungen gegen die Politik, tatenlos zu sein, gewiss Bestand haben. Denn was ja auch berichtet wird, ist, dass bereits seit sechs Jahren aufgrund einer Konzession diese Mengen dort im Hafengebiet lagern. Insofern stellt sich einmal mehr die Frage: Hat die Politik versagt? Es geht ja nicht nur um die aktuelle Regierung, die erst seit wenigen Wochen im Amt ist, sondern es geht grundsätzlich darum, ob das politische System diese Krise noch überstehen wird. Denn die Demonstrationen sind ja nur deswegen im Frühjahr zum Stillstand gekommen, weil die Corona-Krise dazwischen gekommen ist.
DOMRADIO.DE: Die Weltgemeinschaft bietet Hilfe. Solidarität wird ja von vielen Seiten gerade bekundet. Sogar aus Israel, das sich formell im Krieg mit dem Libanon befindet. Ein Fünkchen Hoffnung?
Frings: Das glaube ich nicht. Es ist gewiss ein wichtiges symbolisches Zeichen, das hier gesendet wird. Tel Aviv wird heute auch die Lichter ausstellen, wird Mitleidsbekundungen in den Norden schicken. Wichtig ist aber tatsächlich, dass hier ein humanitärer Geist weht - nicht nur weltweit, sondern auch im Libanon, wo man gerade von vielen Hilfsorganisationen, von viel Graswurzelarbeit und Nachbarschaftshilfe hört, merkt man, dass hier sehr vieles passiert. Ich denke, die wichtigste Hilfe wird gewiss aus Frankreich kommen, aufgrund der engen historischen Beziehungen, die es schon immer zwischen Paris und Beirut gab.
Aber wir müssen auch darüber in die Breite schauen, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die dieses Land massiv lähmt, muss auch weiterhin bearbeitet werden. Und man kann hoffen, dass jetzt auch die politisch Verantwortlichen in Beirut verstehen, dass Reformen eingeleitet werden müssen, damit der IWF das in Aussicht gestellte Hilfspaket auch wirklich schnüren und implementieren kann. Denn nur so kann der Libanon dauerhaft wieder zu einer Ruhe finden, die die Gesellschaft sicherlich mehr als verdient hat.
DOMRADIO.DE: Was braucht der Libanon am dringendsten? Wenn Sie es jetzt einschätzen, um dem Sturz in die totale Katastrophe zu entgehen?
Frings: Ich glaube, wenn man die aktuelle Krise, so schwer das auch sein mag, kurz zur Seite schiebt, dann ist es vor allem ein klares Signal an die Jugend. Jedes Jahr graduieren 35.000 Studierende an den libanesischen Universitäten. Von denen haben 90 Prozent keine Job-Perspektive. Diese Menschen brauchen ein klares Signal, dass sie eine Zukunft im Land haben und nicht in der Diaspora.
Die meisten Libanesen leben ja nicht im Libanon, sondern im Ausland, investieren viel durch Rücküberweisungen in die dortige Gesellschaft. Aber ich denke, dass die Wirtschaftszahlen 2020 sehr miserabel aussehen werden aufgrund der Pandemie. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man den jungen Menschen eine Perspektive vor Ort bietet. Und das ist etwas, was sowohl der Libanon als auch die internationale Staatengemeinschaft leisten können und müssen.
Das Interview führte Katharina Geiger.