KNA: Was läuft aus Ihrer Sicht schief im Umgang mit arbeitslosen Menschen?
Anna Mayr (Buchautorin): Wir verwenden Arbeitslose, um unserem eigenen Leben Sinn zu verleihen. Indem wir uns von ihnen abgrenzen, fühlen wir uns besser, weil wir arbeiten. Je schlechter es den Arbeitslosen geht, desto mehr strengen sich alle auf der Arbeit an, um bloß ihren Job nicht zu verlieren. Damit das funktioniert, muss man die Arbeitslosen verelenden lassen - um in ihrem Dasein die schlechteste Form dessen zu erkennen, was man selbst sein könnte. Das führt zu einem Mangel an Empathie: Wenn Friedrich Merz etwa fordert, alle Sozialleistungen auf den Prüfstand zu stellen, gibt es keinen großen Protest.
KNA: Welche Rolle spielen die Medien?
Mayr: Den Blick auf Arbeitslose prägen Formate wie "Ein Koffer voller Chancen" auf RTL II. Sie produzieren Klischees. Die Mittelschicht lässt sich davon unterhalten, wie dumm, faul und unfähig andere Leute sind. Das liefert ihnen den Beweis, dass Arbeitslose selbst Schuld an ihrer Lage sind. Und dass man ihnen deshalb auch nicht helfen muss.
KNA: Warum merken wir nicht, dass dieses Bild verzerrt ist?
Mayr: Wenn uns jemand fragt, was wir eigentlich so machen, haben wir keine andere Antwort als unsere Berufsbezeichnung. Sogar Kinder fragt man immer, was sie später werden wollen. Die Ideologie von Arbeit als dem wichtigsten Merkmal eines Menschen prägt die Gesellschaft seit Jahrhunderten. Das wird man nicht so leicht los. Ich ziehe ungern Vergleiche zu Antisemitismus oder Rassismus - aber auch dabei handelt es sich um Denkmuster, die sich festgesetzt haben und die man reflektieren muss, damit sie vergehen.
KNA: Sie schreiben, es genüge nicht, Einzelschicksale zu beschreiben. Dies hört man momentan auch häufig in der Debatte über Rassismus. Sehen Sie Parallelen?
Mayr: Viele Betroffene von Rassismus haben das Gefühl, immer von ihren Erfahrungen sprechen zu müssen - um zu beweisen, dass es Rassismus wirklich gibt. Von Marginalisierten verlangt man immer, dass sie sich erklären. Die, die als "normal" gelten, müssen das nie tun. Ich finde nicht, dass Arbeitslose beweisen müssen, dass sie an ihrer Situation unschuldig sind. Es wird immer Arbeitslosigkeit geben, und niemand hat daran Schuld im engeren Sinne, weil Lebenswege nicht geradlinig sind.
KNA: Wenn der aufrüttelnde Einzelfall nicht reicht, Strukturdebatten aber kompliziert sind - wo lässt sich ansetzen?
Mayr: Gesellschaftliches Denken zu verändern, ist schwierig. Manchmal klappt es von unten. Beim Feminismus haben wir gesehen, dass die Gesetzgebung wesentlich ist. Die Gleichstellung der Frau vor dem Gesetz, die schuldlose Scheidung, Elterngeld, Quoten - all das hat viel bewegt. Gesetze lassen sich schneller ändern als strukturelle Denkweisen.
KNA: Noch einmal zurück zum Menschenbild: Experten dafür sind gewissermaßen die Kirchen. Erwarten Sie von ihnen mehr Wortmeldungen zu sozialen Fragen?
Mayr: Der Katholizismus gestand früher auch dem Bettler eine Funktion zu: Indem andere Menschen ihm halfen, taten sie etwas Gottgefälliges. Das ist ein schöner Gedanke, genauso wie vieles, was in der Bibel darüber steht, wie man die Armen behandeln sollte. Auch Martin Luther hatte Ideen zur Umverteilung, auch wenn er es nicht so nannte.
Deshalb wäre es gut, aus dieser Denkweise heraus politisch zu wirken und Änderungen zu erreichen.
KNA: Sie beschreiben eine Veränderung des Begriffs der Arbeit: eine gewisse Sinnentleerung und zugleich das quasireligiöse Bestreben, sich allein über den Job zu definieren. Wie passt das zusammen?
Mayr: Der Hauptfokus eines jeden Lebens besteht darin, einen Job zu finden. Viele Jobs sind aber Mist, und damit sie erträglich werden, sagt man nur noch: "Ich gehe arbeiten." Die Bezeichnung des tatsächlichen Tuns wäre unbefriedigend, etwa: "Ich gehe ins Callcenter und rufe 300 Leute an, die nichts von mir wollen." Wenn wir "Arbeit" sagen, verschleiern wir das Leid und machen uns vor, ein richtiges, selbstbestimmtes, unabhängiges Leben zu führen.
KNA: Könnte sich dies künftig noch verstärken, etwa im Zusammenhang mit "Mikrojobbing" und der Digitalisierung?
Mayr: Die Digitalisierung fordert, dass wir Arbeit neu denken. Es wird in Zukunft viel häufiger passieren, dass Menschen für kurze Zeit arbeitslos sind. Alte Branchen sterben schneller, neue Branchen entstehen schneller. Daher braucht es Konzepte für Weiterbildungen und öffentliche Beschäftigung. Zudem darf es nicht mehr mit Scham behaftet sein, wenn man mal für zwei, drei Jahre nicht arbeitet.
KNA: Sie warnen auch vor einer "Verherrlichung des Verzichts", der etwa in der Klimadebatte immer wieder angemahnt wird. Wie meinen Sie das?
Mayr: Eine Anekdote dazu: Gestern war ich mein eigener schlimmster Albtraum. Ein Interviewpartner, der von wenig Geld lebt, sprach mich auf meine Vespa an. Er sagte, er hätte kein Auto, würde gerade überlegen - aber ein Elektroauto könne er sich nicht leisten. Darauf sagte ich, ich hätte mir letztens ein Elektroauto geliehen, und so praktisch sei das gar nicht. Das ist ein Reflex, wenn man genug Geld hat: Man sagt armen Leuten, dass das, was sie haben wollen, eigentlich nicht erstrebenswert ist. Aber für sie ist es ein Traum, nach Mallorca zu fliegen oder ein Auto zu kaufen. Verzicht bedeutet häufig, dass die obere Hälfte der unteren sagt: Das, was ihr euch erträumt, braucht man eigentlich gar nicht - man sollte es abschaffen.
KNA: Könnte die Corona-Krise den Blick auf Arbeitslosigkeit verändern?
Mayr: Angela Merkel hat Corona als größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Nach dem Krieg passierte viel Umverteilung, durch das Lastenausgleichsgesetz, also eine Vermögensabgabe. Momentan lernt ein neues Klientel die Arbeitslosigkeit kennen, etwa junge, gut ausgebildete Menschen. Viele, die sich diese Situation niemals vorstellen konnten, müssen sich nun damit auseinandersetzen, was Hartz IV bedeutet. Daher kann aus dieser Krise ein Impuls zur Verbesserung der Situation von Arbeitslosen entstehen.
Das Interview führte Paula Konersmann.
Information zum Buch: Anna Mayr: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie trotzdem braucht, Hanser Verlag, Berlin 2020, 200 Seiten, 20 Euro.