Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts stammt bereits vom 8. Juni, hat aber bisher keine mediale Berichterstattung nach sich gezogen. Die Leipziger Richter wiesen eine Beschwerde des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ab. Das Nürnberger Amt hatte Revision gegen ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Februar beantragt und kam damit nicht durch.
Der Beschluss mit dem Aktenzeichen BVerwG 1 B 19.20 ist kaum anderthalb Seiten lang, hat es aber in sich, denn es geht um die korrekte Anwendung der Dublin III-Verordnung der EU von 2013. Diese regelt, welcher Mitgliedstaat für Asylverfahren zuständig ist.
Entscheidung sorgt für Verdruss
Grundsätzlich ist dies jenes Land, in dem ein Flüchtling erstmals EU-Gebiet betritt. Wird im Zuge eines nationalen Verfahrens festgestellt, dass der Asylbewerber über einen anderen Staat in die EU kam, wird dieser gebeten, die Person zu übernehmen. In der Praxis funktioniert das aber oft nicht. Daher gibt es die Möglichkeit, dass ein Staat von dieser Grundregel abweichend selbst in das Asylverfahren eintreten kann. Dies geschieht immer dann, wenn die Überstellung innerhalb von sechs Monaten nicht erfolgt ist.
Die weitaus meisten Kirchenasyle in Deutschland zielen darauf ab, dass das Verfahren in der Bundesrepublik durchgeführt wird, also eine drohende Abschiebung in andere EU-Staaten wie Italien oder Griechenland abgewendet wird. Daher dauerten sie bisher höchstens ein halbes Jahr. 2018 jedoch entschied die deutsche Innenministerkonferenz, den Selbsteintritt bis auf 18 Monate auszudehnen. Mit dieser Linie wichen die Minister von einer mit den Kirchen 2015 getroffenen Vereinbarung ab, was seither bei Kirchenasyl-Aktivisten für anhaltenden Verdruss sorgt.
Innenminister und Bamf beriefen sich bisher auf eine spezielle Auslegung des Artikels 29 der aktuellen Dublin-Verordung. Dieser besagt im zweiten Absatz, unter welchen Umständen der Selbsteintritt eines Staates ins Asylverfahren auf bis zu 18 Monate hinausgezögert werden kann, nämlich "wenn die betreffende Person flüchtig ist". Die deutsche Bürokratie betrachtete dementsprechend im Kirchenasyl Untergebrachte jahrelang als "flüchtig", auch wenn ihr dabei kaum ein Gericht folgte.
Diese Auslegung hat das BVerwG nun im Einklang mit der Rechtsprechung der meisten deutschen Oberverwaltungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EUGH) in letzter Instanz verneint. Als "flüchtig" könne nur eine Person betrachtet werden, die ihre Wohnung verlässt, ohne die zuständigen Behörden darüber zu informieren.
"Eigentlich müssten die Kirchen jubeln"
Eine Flucht in diesem Sinne müsse "kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein". Das sei aber nicht der Fall, wenn im offenen Kirchenasyl Behörden die Adresse des Asylbewerbers bekannt sei. Ein solches Kirchenasyl hindere den Staat "weder rechtlich noch tatsächlich" an einer Abschiebung. Wenn nun Behörden auf eine Überstellung von Personen im Kirchenasyl verzichteten, werfe das keine grundsätzlichen Rechtsfragen auf, die in einer Revision geklärt werden müssten.
"Eigentlich müssten die Kirchen jubeln", sagt die Münchner Rechtsanwältin Gisela Seidler. "Der Ober sticht den Unter", fügt die Juristin hinzu und meint damit, dass anderslautende Urteile nachgeordneter Instanzen nun nicht mehr vom Bamf herangezogen werden könnten, um einen Selbsteintritt erst nach 18 Monaten zu begründen.
Ein halbes Jahr "und keinen Tag länger" dürften vereinbarungsgemäß den Behörden gemeldete Kirchenasyle nunmehr maximal noch dauern. Auch andere kirchennahe Rechtsbeistände sehen das so.
Das Bamf wollte sich auf Nachfrage dieser Interpretation nicht anschließen, zumindest nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Die Auswirkungen der Leipziger Entscheidung und etwaiger Handlungsbedarf aufseiten des Bundes würden vom Bundesinnenministerium und dem Bundesamt noch geprüft, erklärte ein Sprecher.