Während sich die Welt "noch mitten in der Krise" befindet, wie er schreibt, macht sich Kardinal Reinhard Marx sehr grundsätzliche Gedanken über das, was die Corona-Pandemie mit Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kirche macht. Sein Fazit: Ein "Weiter so" dürfe es auf keinen Fall geben.
In seiner kritischen Bestandsaufnahme als Gastbeitrag für die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA, Dienstag) blickt er dabei weniger zurück auf die Frage, ob sich die Kirche zu schnell mit den Corona-Einschränkungen abgefunden und dabei sogar Menschen in Not im Stich gelassen hat. Für eine solche Bilanz sei es noch zu früh, hatte er vor kurzem erklärt.
Kapitalismus beschleunige sich
Marx richtet den Blick vor allem nach vorne und spricht dabei zunächst als gelernter Sozialethiker und Koordinator des Wirtschaftsrates im Vatikan. Aus diesem Blickwinkel wirft er Politik und Gesellschaft vor, beim Kampf gegen die Corona-Krise falsche Akzente zu setzen.
Es bleibe dabei, dass sich die Wirtschaft weltweit einzig an Kapitalinteressen orientiere, schreibt der Namensvetter von Karl Marx: "Hat sich durch Corona daran etwas verändert? Ich kann das nicht erkennen. Im Gegenteil. Der Kapitalismus beschleunigt sich eher noch einmal."
Immer mehr Polarisierung
Die Pandemie müsse eigentlich Kräfte der Solidarität und der Orientierung am "Welt-Gemeinwohl" stärken, so Marx weiter: "Dann wäre die Krise auch eine Chance." Stattdessen gebe es immer mehr Polarisierung, Nationalismus und Fundamentalismus. Und statt gegenzusteuern, seien auch die Hilfen der Staaten für die Wirtschaft darauf ausgerichtet, "dass alles möglichst schnell wieder in Gang kommt, ohne dass dahinter eine Idee der Gestaltung oder das Setzen neuer Prioritäten wirklich sichtbar würde".
Es gebe keine Diskussion darüber, wie man "über den Kapitalismus hinaus denken" könne, bemängelt der frühere Vorsitzende der Bischofskonferenz: "Oder um mit Papst Franziskus zu sprechen: Wie können wir an einer Wirtschaft arbeiten, die wirklich dem Menschen dient und nicht nur an materiellen Interessen orientiert ist?"
Um Schwache und Kranke kümmern
Die Corona-Pandemie mache außerdem eine wachsende Ungleichheit sichtbar. Es sei zu erwarten, dass "die, die viel haben, sowohl an Wissen wie Kapital" stärker aus der Krise hervorgehen. Und wer jetzt schon in prekären Verhältnissen lebe, werde noch weiter zurückgeworfen.
Umso wichtiger sei es für Politik und Kirche, sich für die "Schwachen und Kranken, die Armen, Ausgegrenzten hier und weltweit" einzusetzen, fordert der Kardinal: "Eine Politik und eine Wirtschaft, die im sogenannten 'freien Spiel der Kräfte' letztlich doch nur die begünstigt, die jetzt schon oben sind, die jetzt schon Besitzende sind, kann nicht akzeptiert werden und ist auch nicht nachhaltig."
"Stunde der christlichen Botschaft"
Beim Thema Kirche macht der Münchner Erzbischof auch den Schlenker ins Theologische: Es gehe jetzt darum, "die eigene Endlichkeit, die Begrenztheit der Schöpfung und des Menschen zu sehen, die Unvollkommenheit, das Leiden und die Unausweichlichkeit des Todes".
Im Grunde schlage jetzt "die Stunde der christlichen Botschaft", so Marx: "Wir sind nicht allein, wir haben eine Hoffnung und in Jesus ist dieses absolute Geheimnis, das wir Gott nennen, der Bruder aller Menschen geworden. Das sollte ein Impuls sein, ein Trost und eine Quelle der Kraft für unser Engagement."
Fundamentalismen werden stärker
Zugleich brauche es das Bekenntnis zu einem Gott, der der Vater aller Menschen sei, nicht nur der Christen, ergänzt er: "Deshalb ist jeder Fundamentalismus mit dem Glauben an den Gott und Vater Jesu Christi unvereinbar." Doch gerade in dieser Krise würden auch im Bereich der Religion die Fundamentalismen stärker: "Glaube und Religion werden benutzt für politische Zwecke, für Ideologien, für Abgrenzung und Hass."
Die Welt erlebe seit Jahren, "dass in vielen Ländern, auch etwa in den USA und Europa, die Polarisierungen, der Nationalismus, der politische und religiöse Fundamentalismus (in allen Religionen) zunimmt und das verbunden zum Teil mit kruden Verschwörungstheorien und plakativen Schuldzuweisungen." Ein Weg zu einer neuen weltweiten Solidarität sehe anders aus.