DOMRADIO.DE: Können Sie die wichtigsten Punkte der Enzyklika kurz zusammenfassen?
Stefan von Kempis (Leiter der deutschen Abteilung von Radio Vatikan/Vatican News): Es steht wirklich eine Menge drin, das ist ein sehr umfassender Text - fast schon mehr Tutti Frutti als Fratelli Tutti könnte man etwas böse sagen. Alleine im ersten Teil geht es um Migration, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismen, Populismus, Rassismus, Hassgruppen im Netz, soziale Aggressivität auf Mobilgeräten, Wachtürme und Verteidigungsmauern. Die Mentalität, die Wegwerfkultur, der Relativismus. Religionsfreiheit - es ist eine ganze Reihe von Themen.
Der Papst spricht über das große Politische aber auch über unseren Alltag. Und er versucht der sehr pessimistischen Weltzeichnung, die er am Anfang macht - die Lage sei wirklich sehr düster - einen neuen Drive, ein neues Narrativ entgegenzusetzen: Wir sitzen alle weltweit in einem Boot, das hat die Corona-Pandemie uns doch gezeigt. Wir müssen uns hüten, vor dem, wie er sagt, "Dritten Weltkrieg in Stücken".
Und wir brauchen Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Zärtlichkeit. Und zwar nicht irgendwie als Begriffe, die in der Luft schweben, sondern ganz konkret im Sozialen und auch in der Politik. Das ist so sein großes Thema. Leitbild dabei ist für ihn der barmherzige Samariter aus dem Evangelium. Aber das sei eben keine abstrakte Lehre, sondern etwas ganz Konkretes. Darauf kommt es dem Papst an. Barmherzigkeit, aber bitte konkret.
DOMRADIO.DE: Wie sehen die Reaktionen auf das Schreiben aus?
Von Kempis: Die ersten Reaktionen kamen von der Deutschen Bischofskonferenz oder von Kardinal Schönborn aus Österreich, das waren die Schnellsten, auch ein paar Jesuiten im deutschsprachigen Raum. Die ersten Reaktionen sind sehr gut. Man merkt, es ist doch nicht die Enzyklika, die Frauen auf die Füße treten will. Man hatte ja erst gedacht "Fratelli tutti", sei so ein Macho-Titel, der sich nur an die Herrenwelt richtet und die Frauen außen vor lässt. Dann hat man aber schnell verstanden, dass es da mit diesem Zitat des Heiligen Franz von Assisi, der ja überhaupt Inspirator der Enzyklika ist, darum ging, alle anzusprechen: Männer und Frauen, groß und klein, und zwar weltweit. Also die Reaktionen sind sehr positiv.
Was fehlt, ist mir noch so ein bisschen, dass die normalen Leute in den Pfarreien sich jetzt mal hinsetzen und wenigstens ein paar schöne Stellen aus der Enzyklika lesen. Mir gefällt da ganz besonders ein Lob auf die Freundlichkeit, das der Papst da anstimmt, als eine Haltung, die wir wiederentdecken sollten. Das ist nichts, was man als Papst vor der UNO erzählen kann. Aber es ist etwas, was wir auch uns ganz konkret mal vornehmen können gegen dieses ganze Geschrei im Internet.
DOMRADIO.DE: Für die Unterzeichnung ist der Papst extra nach Assisi gefahren, die Heimatstadt seines Namenspatrons, des Heiligen Franziskus. Ein ungewöhnlicher Schritt. Warum tut er das?
Von Kempis: Es war zwar ein feierlicher Akt in dem Sinn, dass zum ersten Mal überhaupt ein Papst seine Enzyklika in aller Öffentlichkeit unterschreibt, aber dann war es doch auch wieder sehr gedimmt. Die erste Papstreise nach dem Lockdown, muss man sagen. Der Papst ist einfach mit dem Auto durch Assisi gefahren. Da standen paar Leute und haben gewunken. Dann war er in der Krypta der Basilika San Francesco. Da passen unter Corona-Bedingungen knapp 20 Leute rein. Mit denen hat er die Messe gefeiert. Ohne Maske übrigens. Die Messe war in kurzer Zeit vorbei. Keine Predigt. Und dann hat er schon unterschrieben und ist wieder abgereist. Vom Stil her war es wie die Frühmesse, die er jeden Morgen in seiner Kapelle Santa Marta im Vatikan hält. Sehr einfach, sehr normal, ohne so die Menschenmassen, die wir sonst immer bei Papstreisen kennen.
Es war dem Papst einfach wichtig zu sagen: Franz von Assisi ist der Inspirator meines Schreibens. Übrigens gibt es noch einen Inspirator, und das ist auch bemerkenswert: Ahmed Al-Tayyeb, der große Imam der Al-Azhar-Universität, ein muslimischer Gelehrter. Und der Papst bezieht sich auf ihn immer wieder. Er hat ihn 2019 in Abu Dhabi getroffen. Sie haben zusammen ein Dokument über universelle Geschwisterlichkeit unterzeichnet. Und das ist außerordentlich, dass nicht nur ein Heiliger Franz von Assisi eine päpstliche Enzyklika inspiriert, sondern auch ein islamischer Gelehrter.