DOMRADIO.DE: Es ist natürlich sehr schwierig, so ein langes und umfassendes Dokument zu verallgemeinern oder herunterzubrechen. Ist es ein historisches Dokument?
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer (Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Freiburg): Ich glaube ja. Es ist ein historisches Dokument, weil wir gesellschaftlich an einem Wendepunkt stehen. Nachdem es in ganz vielen Ländern diesen Lockdown gegeben hat, versuchen jetzt die Gesellschaften mit den Nachwirkungen dieses Lockdowns und mit den Erfahrungen aus der Zeit, Gesellschaft wieder zu rekonstruieren.
Und vielen ist klar, vielen Menschen ist deutlich geworden, dass es nicht einfach ein Zurück zu dem Bisherigen geben kann. An dem Punkt eine kirchliche Stimme einzubringen, mit dieser Dimension, dass es nicht nur um einen Glauben an den Markt und an bestimmte Gesetzmäßigkeiten geht, sondern, dass wir mehr brauchen. Wir brauchen ein Ethos, wir brauchen eine ethische Grundlinie. Das in die verschiedenen Bereiche hinein ausgefaltet zu haben, ist glaube ich schon der Inhalt eines historischen Dokuments.
DOMRADIO.DE: Im Vorhinein wurde viel über den Titel "Fratelli tutti", also an alle Brüder, diskutiert. Sofort kam die Frage auf: Was ist denn mit den Schwestern? Wird denn über die gar nicht gesprochen bei der Enzyklika? Was ist da die Antwort drauf?
Nothelle-Wildfeuer: Der Titel hat natürlich im Vorfeld für viel Furore gesorgt, schon bevor die Enzyklika überhaupt gelesen war. Ich hätte mir auch einen Titel gewünscht, wo die Schwestern nicht nur mitgedacht, sondern auch mitgenannt werden. Klar, das ist ein Zitat vom Heiligen Franziskus, das hat der Vatikan gleich gesagt.
Trotzdem hätte man es sich anders gewünscht. Auf der anderen Seite ist immerhin der Untertitel selbst eindeutig vom Begriff der Geschwisterlichkeit geprägt. Und die ganze Enzyklika hat durchgehend eigentlich diesen Terminus aufgenommen. Sodass man sagen kann, von daher sind schon selbstverständlich die Frauen im Blick.
Aber man muss, glaube ich, sowieso sagen, dass es dem Papst gerade darum geht zu fragen, wie können wir Unterschiede bestehen lassen, aber eine große Gemeinsamkeit bewirken. Und da zählt er, bei der Frage, die er sehr deutlich behandelt, wo gibt es eigentlich tatsächlich noch Defizite in Sachen Menschenrechte, eindeutig unter anderem auch auf dieses Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Das hat er sehr im Blick. Die Frage ist halt, warum es nicht im Titel schon deutlich geworden ist.
Aber in der gesamten Enzyklika sind selbstverständlich die Frauen gleichberechtigt mit gemeint.
DOMRADIO.DE: In der Enzyklika spricht Papst Franziskus politische Themen an. Die Vereinten Nationen sollen reformiert werden. Es braucht eine Reform der kapitalistischen Wirtschaft. Da gibt es viel Kritik dran. In der öffentlichen Diskussion gab es ja schon immer das Argument, die Kirche solle sich lieber mit Spiritualität und Seelenheil befassen und nicht mit der Politik. Auf der anderen Seite ist das eines der politischsten Schreiben, die wir von Papst Franziskus bisher kennen. Wie bringt er das in Einklang?
Nothelle-Wildfeuer: Da geht er ganz eindeutig darauf ein. Denn diese Frage ahnt er wahrscheinlich schon, sie ist ja auch nicht neu. Und er sagt ganz klar, dass er auf jeden Fall die christliche Botschaft so versteht, dass sie auch diese politische Wirkung hat.
Das Evangelium ist in diesem Sinne politisch, als dass es eben auch in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft, für Wirtschaft, für Politik Konsequenzen hat. Es geht eindeutig so, dass er sagt, die Mission der Kirche ist nicht nur auf den privaten Bereich beschränkt. Er will keine Politik im Sinne von Parteipolitik machen. Aber er macht deutlich, dass das Evangelium Konsequenzen in alle Bereiche hat, und damit auch in diese öffentlichen Bereiche hinein.
Die Debatte zur Begrenzung auf Spiritualität führen wir ja gerade auch im Kontext von Neuevangelisierung in Deutschland sehr viel, aber nicht nur in Deutschland. Eine Begrenzung auf Spiritualität verkürzt die Botschaft des Evangeliums. Das ist auch die klare Aussage des Papstes.
DOMRADIO.DE: In der internationalen Berichterstattung wird diskutiert, dass der Papst sich ganz klar gegen Todesstrafe und Krieg in jeder Form äußert. Ist das in Ihren Augen eine Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre oder ist in dem Punkt etwas wiedergegeben, was sowieso schon unsere Überzeugung ist?
Nothelle-Wildfeuer: Diese Passagen zu Krieg, zur Todesstrafe, weiter vorne in der Enzyklika gibt es eine Äußerung zur Sklaverei, also zu Unfreiheit, diese Passagen lese ich eindeutig so, dass es eine Dynamik in der Lehre gibt, eine Lehrentwicklung. Was ich auch eine hoffnungsvolle Aussage finde, eben mit der Perspektive, dass wir auch an anderen Punkten vielleicht irgendwann eine Lehrentwicklung verzeichnen können.
Aber, zu den konkreten Themen gesagt: zum Thema Todesstrafe hat er im Sommer 2018 schon deutlich gesagt, dass der Katechismus geändert wird. Da hat er eindeutig diesen Schnitt gemacht. In seiner Argumentation, und das fasst er jetzt noch einmal unter der Leitlinie der Geschwisterlichkeit und der jedem Menschen unverbrüchlich bleibend zustehenden Menschenwürde zusammen, ist Todesstrafe nicht verantwortbar, von allen unterschiedlichen Intentionen. Die Todesstrafe hat keine Intention mehr so, dass sie noch überzeugen kann, weil es andere Mittel und Wege gibt, Menschen einerseits einer gerechten Strafe zuzuführen und andererseits dann wieder in Gesellschaft zu integrieren.
Und was die Frage nach dem Krieg angeht, ist es das erste Mal, dass ich das so deutlich lese. Was aber in der ethischen Diskussion um die Themen von Frieden und Versöhnung ganz klar auch so entwickelt wurde, dass nämlich die naturrechtliche Argumentation zum Thema gerechter Krieg so nicht mehr zieht. Angesichts der technologischen Entwicklungen, die auch und gerade im Waffenbereich sehr weit vorangeschritten sind, sagt er ganz klar, dass die Nachteile einen möglichen Nutzen immer überwiegen und deswegen finden wir dort die drei Worte "Nie wieder Krieg". Das ist seine Aussage.
DOMRADIO.DE: Der Papst entwirft eine sehr umfassende Vorstellung davon, wie die Welt nach der Corona-Krise funktionieren kann und soll. Gucken wir mal nicht nur auf das, was drinsteht, sondern auch auf das, was nicht drinsteht. Bräuchte es nicht auch ein bisschen mehr einen Blick auf die Kirche selbst? Dass man da ein bisschen mehr Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit findet?
Nothelle-Wildfeuer: Ja, ich sehe das als ein Problem an. Zum einen muss man sagen, Sozialenzykliken sind klassisch Texte das päpstlichen Lehramtes, die sich an die Gesellschaft wenden.
Da gibt es 1961 eine Enzyklika mit dem Titel "Mater et Magistra". Und das spiegelt so wider, mit welchem Selbstverständnis die Kirche auftrat. Sie ist Mutter und Lehrmeisterin der Gesellschaft und sagt wo es lang zu gehen hat, um es mal salopp zu formulieren. Aus dieser Haltung ist der Papst ganz raus.
Er benutzt den Begriff der Demut. In gutmütiger Haltung möchte er einen Beitrag leisten. Das, glaube ich, ist schon mal ein wichtiger Punkt. Was ich als fehlend empfinde: Er hat bislang in seinem Pontifikat deutlich gemacht, dass Ethik und Ekklesiologie, also das, was ich, was wir als Kirche tun oder empfehlen zu tun und wie wir in der Kirche selber sind, eng zusammengehört. Dass wir also nur Glaubwürdigkeit als Kirche haben können, auch wenn wir etwas in Gesellschaft hineinsprechen, wenn wir uns an unseren eigenen Werten im inneren der Kirche, die ja auch ein Sozialgebilde ist, messen lassen.
Sie haben die Stichworte Geschwisterlichkeit, das Verhältnis der Geschlechter, Gerechtigkeit und sowas angesprochen. Und ich glaube, es gibt Anknüpfungspunkte in der Enzyklika wo man sagen könnte, da wäre es auch an der Zeit, dass die Kirche nach innen schaut. Diese Punkte, glaube ich, sind uns jetzt aufgegeben um da entsprechend auch weiter anzuknüpfen. Der Papst macht es in dieser Enzyklika nicht.
Ich hätte es mir von seinem Schwerpunkt oder dem Akzent seines Pontifikats her denken können. Aber eine klassische Sozialenzyklika ist eigentlich immer erst mal an die Gesellschaft gerichtet.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.