Buchautor über gesellschaftliche Ängste und persönliche Hoffnungen

99 Fragen an den Tod

Im Buch "99 Fragen an den Tod" stellen sich die Autoren theoretischen und praktischen Fragen rund um Sterben und Tod. Autor Rainer Simader sieht dabei die Kirchen in einer wichtigen Funktion - nicht nur im Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit.

Symbolbild Sterbebegleitung / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Sterbebegleitung / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Herr Simader, warum sollte ein junger, gesunder Mensch über den Tod nachdenken?

Rainer Simader (Leiter des Ressorts Bildung bei Hospiz Österreich): Ich bin nach meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten in die Geriatrie gekommen - mit dem physiotherapeutischen Weltbild, dass man, überspitzt gesagt, mit genug Training alles wieder gut machen kann. Ich habe schnell festgestellt, dass das nicht stimmt, denn ich wurde damit konfrontiert, dass Menschen sterben.

Zugleich habe ich gemerkt, dass ich zu einer höheren Lebensqualität von hochbetagten, schwerkranken Menschen beitragen kann. Das ist eine große Aufgabe. Zudem hat die Frage nach dem Tod die Menschheit schon immer beschäftigt. Sie ist nicht nur erschreckend, sondern auch spannend. Ebenso kommen rund um das Lebensende viele Emotionen zusammen: Es kann nicht nur traurige, sondern auch heitere Momente geben, eine große Lebendigkeit.

KNA: In Ihrem Buch stellen Sie "99 Fragen an den Tod". Wie kam es zu dieser Idee?

Simader: Der Tod verlagert sich immer mehr auf das abendliche Fernsehprogramm. Wir holen ihn uns über Krimis mit unzähligen Leichen ins Wohnzimmer. Daneben wird Makellosigkeit auf Online-Plattformen zelebriert, Schönheitsoperationen nehmen zu, Castingshows boomen. Als wichtig gilt, gut auszusehen und Fitness zu machen.

Das gleicht einem Kampf gegen die Vergänglichkeit. Patienten und Angehörigen fällt es immer schwerer, sich dem Sterben zu stellen. Darüber braucht es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung.

KNA: War das denn früher leichter?

Simader: Früher sind viele Menschen zu Hause gestorben. Sie wurden aufgebahrt, und es war auch für Kinder selbstverständlich, dem Tod auf diese Weise zu begegnen. Dadurch, dass der Tod heute so weit weg scheint, wird er umso bedrohlicher. Es bräuchte von kleinauf wieder mehr Mut im Umgang mit diesem Thema - und vor allem einen Zugang zur Vergänglichkeit. Bei Projekten wie "Hospiz macht Schule" lernen Kinder, dass es nichts Schlimmes ist, sondern etwas Lebendiges, sich mit dem Tod zu beschäftigen.

KNA: Warum ist der Tod überhaupt ein solches Tabuthema?

Simader: Die Medizin hat viel dazu beigetragen, dass Menschen länger leben und dass Krankheiten, an denen man früher gestorben ist, geheilt werden können. Dieser Fortschritt führt zu der Hoffnung, dass alles wieder gut wird, dass für bislang unheilbare Krankheiten ein Gegenmittel gefunden wird und dass man sich mit dem unliebsamen Thema Tod nicht beschäftigen muss.

Manche Hoffnungen sind berechtigt oder tun erkrankten Menschen gut. Sie können aber auch etwas Verführerisches haben und dazu beitragen, schwierige Themen zu verdrängen.

KNA: Sie beschreiben, dass viele Menschen sich zum Lebensende hin anderen Themen zuwenden, "innerlicher" werden. Was lässt sich von ihnen lernen?

Simader: Viele beschäftigt die Frage, wie sie mit ihrer Zeit umgegangen sind, ob sie ehrlich mit den eigenen Gefühlen umgegangen sind. Sie möchten sich mit Menschen versöhnen, die ihnen wichtig waren, führen letzte Gespräche. Diesen Erfahrungen sollten wir mehr Raum geben, auch öffentlichen Raum.

Denn daraus lässt sich sehr viel lernen: Wenn wir uns schon im Leben darüber bewusst wären, dass unser Dasein endlich ist, dann würden wir manche Entscheidungen anders treffen. Aber oft verändern wir unser Verhalten erst dann, wenn wir erfahren, was es wirklich bedeutet.

KNA: Könnte sich daran durch die Corona-Pandemie etwas verändern?

Simader: Wir können für künftige Krisensituationen lernen: So gibt es Forschungsprojekte zum Umgang mit Krankheiten, Sterben und Palliativversorgung in Pandemien - auch zu der Frage, was künftig anders gemacht werden sollte. Ob es gesellschaftliche Veränderungen geben wird, ist schwer abzuschätzen.

Für viele Menschen war es die erste Pandemie, die sie hautnah miterlebt haben, und in solchen Situationen reagieren viele eher intuitiv. Aber natürlich kann sich auch jeder Einzelne fragen, was in einer ähnlichen Situation in Zukunft anders laufen sollte.

KNA: Die Rechtslage hat sich im Frühjahr verändert, organisierte Suizidbeihilfe ist in Deutschland nicht mehr strafbar. Wie weit geht die Selbstbestimmung des Menschen aus Ihrer Sicht?

Simader: Das ist eine wichtige Frage, und genau in diesem Bereich ist die Palliativversorgung gefordert. Sterbende Menschen sollten wissen, welche Möglichkeiten es noch gibt - denn es gibt sehr viele. Das Bedürfnis, das Leben aktiv zu beenden, geht oft auf Leid oder Angst vor Schmerzen zurück.

Dagegen kann man häufig etwas tun. Ich habe mit verzweifelten Menschen mit starken Schmerzen gesprochen, die in ausweglosen sozialen Situationen waren. Viele haben später gesagt: Wenn ich gewusst hätte, wie mir geholfen wird, dann wäre ich früher gekommen.

KNA: Manche befürchten eine "Normalisierung" von Suizid.

Simader: Mich beunruhigt die Frage: Was ist ein alter oder sehr kranker Mensch in unserer leistungsorientierten Gesellschaft wert? Menschen wollen assistierten Suizid nicht selten deshalb in Anspruch nehmen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Das ist ein schlimmes Zeichen. Darüber müssen Politik und Gesellschaft diskutieren.

KNA: Welche Rolle könnten die Kirchen hier übernehmen?

Simader: Die Kirchen haben eine wichtige soziale und gesellschaftliche Funktion. Sie sind seit langem Träger von Krankenhäusern und Palliativeinrichtungen. Und sie können ein gutes Sprachrohr sein, was die Frage angeht, wie wir Menschen mit dem Lebensende umgehen.

Das Interview führte Paula Konersmann.


Pflegerin mit Patient  / © Corinne Simon (KNA)
Pflegerin mit Patient / © Corinne Simon ( KNA )
Quelle:
KNA