Am Anfang der Reformation stand nicht Martin Luther, sondern eine Ablassblase ungekannten Ausmaßes, sagt der Historiker Georg Habenicht in seinem neuen Buch "Ablass Wertpapier der Gnade. Wie es zur Reformation kommen musste". Als diese Blase 1517 platzte, waren die Zeitgenossen so überrascht wie die Menschen im Wendejahr 1989 vom Fall der Berliner Mauer. Seitdem gilt das Ablasswesen als geradezu toxisches Thema, als Ausweis für die moralische Verderbtheit des damaligen Papsttums.
Nicht jedoch für den Historiker Habenicht. Im Gegenteil. Er hält den Ablass für eine geradezu geniale Erfindung der katholischen Kirche im Spätmittelalter, denn er verbinde egoistisches Streben mit altruistischem Verhalten: "Ich tue etwas für mich und mein Seelenheil, aber mit der Summe, die ich für einen Ablass zahle, helfe ich eine Kirche zu bauen beispielsweise", sagt er. Er sieht in dieser "genialen Konstruktion" einen sicheren Grund für die Popularität des Ablasses. Und dann war er auch noch eine Abkürzung auf dem Weg in den Himmel und dabei bequemer als andere große Straßen des Heils, so Habenicht.
Was ist ein Ablass?
Der Ablass ist ein Nachlass zeitlicher Bußstrafen für die Sünden, die man gebeichtet hat und die hinsichtlich der Schuld schon vergeben sind. Es gibt drei Sorten von Ablass, den Partikularablass, den Plenarablass und den Beichtbrief, sagt der Historiker und betont, diese Unterscheidung sei wichtig: "Die heißen alle Ablass - bedeuten aber ganz unterschiedliche Dinge. Das ist so, als ob man über Alkohol spricht und fallweise Rotwein, Korn oder Bier meint."
Der Ablass hat die fantastische Fähigkeit, Schuld zu bestimmen und in einem Zahlenwerk auszudrücken - und dazu noch dazu in einem Standard, der in ganz Europa gilt, sagt Habenicht. Der Partikularablass erlaubt, die Bußfrist im Fegefeuer um Jahre, Monate, Tage oder gar Stunden zu verkürzen. Der Plenarablass hingegen stellt einen Schuldenschnitt dar, alle Bußstrafen wurden schlagartig erlassen. Dumm nur, sagt Habenicht, dass der Mensch anschließend wieder sündigte und damit in Konsequenz neue Bußstrafen anhäufte. Das Schuldenkonto wuchs immer wieder nach.
Eine Art Anleihe
Der sogenannte Beichtbrief beinhaltete einen Plenarablass, den die Menschen später, in der Regel kurz vor dem Tod, einlösen konnten. Der Ablass wurde verbrieft, erklärt der Historiker und vergleicht ihn mit einer Anleihe am Gnadenschatz der Kirche, aus dem heraus der Ablass gewährt wird. Die verbriefte Gnade konnte man mit nach Hause nehmen und auf die hohe Kante legen.
Die Kirche hatte mit dem Ablass ein perfektes Angebot an Gnade für alle Gegebenheiten. Logisch also, dass die Papstkirche den Ablass als einen riesigen Erfolg begriff und das System ausweitete. Es gab eine Gnaden-Inflation - immer mehr Gnade für immer weniger Geld. Das war schon für die Zeitgenossen ein Zeichen dafür, dass das System ins Schlingern geriet, erklärt der Historiker.
Inflation des Ablasses
Das Ablasswesen war zu dieser Zeit wie eine Hyperinflation, sie ließ sich nicht regeln. Die Ablassblase wurde aufgebläht durch die Beichtbriefe, die in einem unbekannten Umfang bei den Menschen lagerten. Ein Beichtbrief hätte für das Seelenheil ausreichen können, aber um den Vertrieb anzuheizen, riet man, auf Nummer sicher zu gehen und noch einen zweiten oder dritten zu kaufen.
Und dann platzte die Blase - denn mit der Reformation hat Martin Luther einen Totalablass verkündet, stellt Georg Habenicht fest. Die Theologie, die der Wittenberger Reformator entwickelte, bedeutete einen Systemwechsel: Gnade für alle, jederzeit und umsonst, man musste nur getauft sein.
Luthers Totalablass
Dieser Totalablass machte das Depot an Gnade, das die Menschen noch zuhause hatten, zu Ramschanleihen. Worauf gestern also noch die Hoffnungen für das Jenseits ruhten, war auf einmal ein wertloser bedruckter Zettel. Die Ablassblase platzte also bei jedem Menschen zuhause, der einen oder mehrere Beichtbriefe besaß.
Die Reformation war eine Revolution, sie bedeutete einen totalen Systembruch. Ein ähnlicher Vorgang trat erst wieder mit der Französischen Revolution ein, meint der Historiker Georg Habenicht.
Christiane Laudage