Der Terrorismusforscher Guido Steinberg sieht die gegenwärtige Welle von islamistischen Attentaten als Zeichen, wie groß die Unruhe und die Mobilisierung im dschihadistischen Milieu sei, sagte er am Mittwoch in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Es gebe offenbar eine hohe Zahl von islamistischen Terroristen in Europa. Die Szene sei größer geworden. Der Islamwissenschaftler forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter anderem zu Terrorismus.
KNA: Herr Steinberg, sind die Attentate von Paris, Nizza, Dresden und Wien wirklich Einzeltaten?
Steinberg: Nach gegenwärtigem Wissensstand gehe ich von Einzeltätern aus. Zwar hat der IS das Wiener Attentat für sich reklamiert, aber ich glaube, das ist nur Trittbrettfahrerei. Der IS hat seit 2017 seine Steuerungsfähigkeit verloren, er hat derzeit kaum Einfluss auf seine Anhänger in Europa.
KNA: Aber warum häufen sich die islamistischen Terrorangriffe in Europa gerade?
Steinberg: Es gibt konkrete Auslöser: Das sind der Anfang September in Paris begonnene Prozess gegen die Attentäter auf «Charlie Hebdo» und die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Frankreich. Seitdem fühlen sich offenbar manche Islamisten zu Attentaten berufen. Aus meiner Sicht handelt es sich um Täter, die durch den Niedergang des IS an Orientierung verloren haben. Jetzt können sie sich wieder als Teil einer Bewegung fühlen.
KNA: Ist das mittelfristig eher eine bedrohliche oder eher eine positive Entwicklung für die Sicherheit der Europäer?
Steinberg: Zunächst mal klingt das positiv: Mit dem Niedergang des IS hat sich die Sicherheitslage in Europa stark verbessert; es gab schon länger keine großen Attentate von Islamisten mehr. Es fehlt an Organisationsfähigkeit und Steuerung aus dem Hintergrund. Die schlechte Nachricht ist: Wir hatten noch nie eine so bedrohliche Welle von Einzeltätern. Das ist ein Alarmzeichen für Europa, weil es zeigt, wie groß die Unruhe und die Mobilisierung im dschihadistischen Milieu ist. Es gibt offenbar eine hohe Zahl von islamistischen Terroristen in Europa. Die Szene ist größer geworden. Darunter sind auch viele Radikale mit Kampferfahrung.
KNA: Wie kann der Staat reagieren?
Steinberg: Solche potenziellen Einzeltäter sind natürlich eine enorme Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, die Überwachung ist sehr aufwendig. Aber als Bürger erwarte ich eine Antwort des Staates; er muss die Sicherheit seiner Bürger garantieren.
KNA: Aber wie konkret?
Steinberg: Zunächst mal durch Überwachungsmaßnahmen gegenüber Gefährdern: Observation, elektronische Fußfesseln, Meldepflichten. Auch die konsequente Abschiebung von Gefährdern halte ich für erforderlich. Straftäter können auch in verlängerter Abschiebehaft gehalten werden, wenn es gerade Abschiebehindernisse gibt. Dabei muss ich sagen, dass Deutschland mit Blick auf Abschiebungen schon sehr weit geht und in fast alle Staaten weltweit ausweist, von Afghanistan über Russland bis Nigeria.
KNA: Aber darf man in Konfliktgebiete wie Syrien ausweisen? Das UNHCR verweist auf die Genfer Flüchtlingskonvention und Menschenrechtskonventionen...
Steinberg: Nach Syrien würde ich nicht abschieben - aber nicht aus humanitären Gründen. Die syrische Regierung ist kein Partner für uns. Und niemand kann garantieren, dass der gerade abgeschobene Islamist nicht kurze Zeit später wieder von einem syrischem Geheimdienst in den Libanon, die Türkei oder Europa geschickt wird und Anschläge verübt.
KNA: Mehrere Islamwissenschaftler und Unionspolitiker haben am Sonntag in einem Offenen Brief auch eine Auseinandersetzung mit dem politischen Islam gefordert. Halten Sie das auch für nötig?
Steinberg: Unbedingt. Dass die Mohammed-Karikaturen Auslöser für Terroranschläge wurden, zeigt doch, wie sehr unsere Demokratien durch eine politische Interpretation des Islam bedroht werden. Auch der türkische Präsident Erdogan, Moscheevereine, islamistische Organisationen und Prediger schüren den Hass auf unser Lebensmodell. Sie sind Teil einer massiven Stimmungsmache gegen unsere Art zu leben. Deshalb muss der Staat viel stärker als bisher gegen solche Tendenzen vorgehen und etwa Organisationen verbieten, ausländische Einflüsse bekämpfen und Moscheen und Predigern enge Grenzen setzen.