Es ist kalt, und die groben Pflastersteine sind nicht selten glitschig vor Nässe. Die große Tanne ist hell beleuchtet, ein roter Stern krönt ihre Spitze. Lichterketten umsäumen den Platz.
Weihnachten in Bethlehem hat wenig von Hoppenstedtscher Gemütlichkeit und noch weniger vom viel besungenen leise rieselnden Schnee, der das Kommen des Christkinds ankündet. Und doch ist die Stadt für viele Menschen gerade an Weihnachten ein Sehnsuchtsort.
"Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubellieder und kommet, oh kommet nach Bethlehem", singen Abermillionen Christen zur Weihnachtszeit. Dem Ruf folgen die deutschsprachigen Benediktinermönche vom Jerusalemer Zionsberg. Jahr für Jahr ziehen sie in der Nacht zwischen Heiligabend und dem Weihnachtstag zu Fuß die zehn Kilometer von Jerusalem hin zur Geburtskirche nach Bethlehem. Mit im Gepäck haben sie eine meterlange Schriftrolle mit unzähligen Namen aus aller Welt - Menschen, die in Gedanken am Geburtsort Jesu sind. Es geht entlang einer Schnellstraße, es geht entlang der Mauer, die Israel von Palästina trennt. Idyllisch ist der Weg nicht. Die Mönche gehen ihn seit Jahrzehnten.
Wie sieht es in diesem Jahr aus?
Doch in diesem Jahr herrscht die Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen das Virus auf die Weihnachtspläne der Benediktiner haben wird, weiß niemand. Der Prior der Dormitio-Abtei, Pater Matthias Karl, ist zuversichtlich, dass die Mönche ihren Pilgerweg unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen dennoch antreten können. Unter Umständen könne der Ablauf aber erst an Heiligabend entschieden werden. Notfalls wollen sie sich dem Lateinischen Patriarchen anschließen, der den Weihnachtsgottesdienst traditionell in der Bethlehemer Katharinenkirche zelebriert.
Denn für die Gemeinschaft ist es wichtig, dass sie am Weihnachtsmorgen in Bethlehem sein können. Schließlich sind sie dort nicht nur für sich selbst, sondern für Tausende anderer. Die Rolle mit ihren Namen legen sie auf dem silbernen Stern in der Geburtsgrotte ab. "Ich trage Deinen Namen in der Heiligen Nacht nach Bethlehem" heißt die Aktion, durch die im vergangenen Jahr über 112.000 Menschen mit dem Ort der Weihnachtsgeschehens verbunden sein konnten. Sie kamen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aus Großbritannien und den USA.
Aus der Tradition wurde eine professionalisierte Aktion
Früher waren die Mönche und einige Pilger unter sich. Im Laufe der Jahre erfuhren immer mehr Menschen von dem nächtlichen Gang.
Handgeschriebene Zettel mit Gebetsanliegen füllten fortan die Jackentaschen der Benediktiner. Bis sich vor über zehn Jahren die Anliegen so häuften, dass aus der Tradition eine professionalisierte Aktion wurde, die immer rasanter anwuchs. Befanden sich 2012 noch gut 20.000 Namen auf der Liste, waren es sechs Jahre später schon 70.000.
Im vergangenen Jahr wog die Rolle 9,3 Kilogramm und musste von zwei Personen getragen werden. "In diesem Jahr werden wir die Blätter beidseitig mit Namen bedrucken", sagt Pater Matthias und lacht.
Eine eindeutige Erklärung für den Andrang, den die Aktion erfährt, gibt es nicht. "Es scheint ein Bedürfnis der Menschen zu sein, sich auf diese geistliche Weise mit Bethlehem zu verbinden", versucht sich Pfarrer Peter Stelten an einer Antwort. Er lebt als Oblate in enger Verbundenheit mit der benediktinischen Gemeinschaft vom Zion. Seine Dormagener Gemeinde Sankt Michael wurde zum Außenbüro der Jerusalemer Weihnachtsaktion. Neben der Online-Werbung mussten in diesem Jahr rund 35.000 Flyer verpackt und verschickt werden.
Das Ideal ist der Realität gewichen
Vielleicht sei der Zuspruch aber auch eine Konsequenz der globalen Welt, überlegt Stelten: "Menschen haben ein Bedürfnis zu fragen, wo sie vorkommen." Dass ihr Name am Weihnachtsmorgen auf den Stern in der Geburtsgrotte, der Tradition nach dem Geburtsort Jesu, gelegt werde, bedeute den Menschen viel. Mit jedem Namen werde die persönliche Geschichte eines jeden Einzelnen stellvertretend vor Gott gebracht. Denn der Name ist mehr als nur eine Eigenbezeichnung. Durch ihn wird Ansprechbarkeit, wird Beziehung ermöglicht.
"Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben", schrieb Paul Gerhardt im Jahr 1653. "Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und laß dir's wohlgefallen." Aber nur poetisch-geistlich sehen die Benediktiner ihre Aktion nicht. Parallel zur Namensaktion sammeln sie auch Spenden, um Sozialprojekte in Bethlehem zu unterstützen.
Am frühen Weihnachtsmorgen, wenn Mönche und Pilger an ihrem Ziel ankommen, setzt der Muezzin zum ersten Gebetsruf des Tages an. Hier in Bethlehem ist keine Krippe, kein Stall. Kein Schnee und keine Weihnachtsgans. Von einem holden Knaben mit lockigem Haar fehlt jede Spur. Stattdessen Tagelöhner, die in langen Reihen am Checkpoint warten.
Das Ideal ist der Realität gewichen. Nichts erzählt von einem triumphalisierenden Gott. Die Armen, die Unterdrückten rücken ins Zentrum des Geschehens. Weihnachten, Menschwerdung bedeutet - das wird in Bethlehem ganz deutlich - das radikale Einlassen Gottes auf alle Facetten der menschlichen Existenz. Möglicherweise ist es genau das, was die Weihnachtsbotschaft an diesem Ort so besonders macht.