DOMRADIO.DE: Die Forderung von Ihnen ist ja nicht neu. Was soll ein Beauftragter gegen das Alleinsein denn bringen?
Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD-Politiker im Deutschen Bundestag, Mediziner und Gesundheitsökonom): Wir haben ja ständig wichtige Entscheidungen zu treffen, in der Sozialpolitik, in der Gesundheitspolitik, in der Wirtschaftspolitik – und da wird vieles mit bedacht. Sehr häufig wird beispielsweise bedacht, wie sich etwas auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts auswirkt oder auf bestimmte Kenndaten der Ökonomie.
Aber auf einen Aspekt wie Einsamkeit achten wir gar nicht. Also etwa: Was bedeutet das beispielsweise für bereits einsame Menschen? Macht es das für sie schwerer in Zukunft oder leichter? Wir haben dieses riesige Problem, das ein Gesundheitsproblem ist, genauso wie ein soziales Problem. Das haben wir eigentlich gar nicht auf dem Radar im politischen Berlin. Das wird nicht mitdiskutiert. Das müsste in frühen Phasen der Gesetze-Entwicklung mit beachtet werden, sodass wir Maßnahmen koordinieren, die helfen können, die Einsamkeit unwahrscheinlicher zu machen.
DOMRADIO.DE: Bisher gibt es im Koalitionsvertrag nur die Formulierung, dass Strategien und Konzepte entwickelt würden, weil die Gesellschaft immer individueller, mobiler und digitaler wird. Und die sollen der Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen. Reicht das schon?
Lauterbach: Nein. Zunächst: Wir haben ja diese Konzepte, muss man ehrlicherweise sagen, in dieser Legislaturperiode nicht entwickelt. Und es muss ja auch konkret werden. Man könnte sich zum Beispiel einen Ideenwettbewerb für bestimmte Bereiche vorstellen. Man könnte dann also beispielsweise in die Förderrichtlinien des Bundes und der Länder und dort diesen Aspekt mit aufgreifen. Man könnte da sehr viel konkreter werden.
Das fängt ja schon damit an, wenn man betrachtet, was beispielsweise für modernes Bauen genehmigt wird. Was wird genehmigt, wo ich durch Gentrifizierung Leute aus ihrer Heimat vertreibe? Wie helfe ich Menschen im ÖPNV beispielsweise zusammenzukommen? Das wird ja nur allenfalls jetzt gemacht, dass man versucht, die Verödung bestimmter Städte, Stadtteile und Dörfer zu vermeiden. Aber für alle Menschen Einsamkeit unwahrscheinlicher zu machen, dass man sich auch mit Forschung intensiver damit beschäftigt, wer genau die Einsamen sind und wie es dazu kommt, das alles findet nicht statt. Wir haben kein Forschungsprogramm für diese riesige Pandemie, die da längst begonnen hat.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, wir hätten nicht nur die Corona-Pandemie gerade, sondern auch noch eine andere große: Die Einsamkeit als soziale Pandemie des 21. Jahrhunderts – und das wäre ein massiver Krankmacher. Welche Prognose stellen Sie der deutschen Gesellschaft denn in diesem Punkt – vor allem jetzt, nach neun Monaten Pandemie samt Quarantäne beziehungsweise Abstand halten und Kontaktbeschränkungen?
Lauterbach: Das kann sich negativ und positiv auswirken. Negativ wirkt es sich natürlich jetzt konkret kurz aus. Das ist ganz klar, weil die Einsamen sind noch einsamer und haben es noch schwerer. Und viele Menschen verlieren auch übrigens in diesen Tagen ihre Lebenspartner, ihre Freunde. Wir dürfen ja nicht übersehen, wo denn das ganze hier einschlägt. Das sind ja oft ältere Menschen. Das sind oft Menschen, die chronische Krankheiten haben, die schon einsam waren, die lassen dann andere noch zurück. Das wird somit zunächst einmal schlimmer werden.
Aber vielleicht ist sie dann ja auch eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir unsere Gesellschaft verändern wollen. Wollen wir wirklich so weiterleben? Denn wir leben ja jetzt sozusagen auf Raubbau der Natur. Wir verursachen einen fast nicht mehr beherrschbaren Klimawandel und wir müssen uns überlegen, ob wir nicht andere Werte in unserer Gesellschaft wieder stärker in den Vordergrund stellen. Da spielt neben dem Umweltschutz auch das gute Miteinander, das gute Soziale eine Rolle. Da werden wirklich gute Ideen, aber auch Initiativen gebraucht. Das könnte auch eine Initiative sein, die aus der Pandemie mit Corona herauswächst, um die nächste Pandemie, die Einsamkeits-Pandemie zu bewältigen.
DOMRADIO.DE: Das müsste also alles in allem mitgedacht werden. Jetzt reklamieren nicht nur Sie, sondern auch die FDP und die CDU beispielsweise den Einfall mit dem Einsamkeitsbeauftragten für sich. Haben die Ihre Idee geklaut?
Lauterbach: Ehrlich gesagt, das ist mir völlig egal, wer da jetzt den Gedanken aufgreift. Ein guter Gedanke verliert nicht an Wert, wenn er von der FDP mitgetragen wird, sondern ganz im Gegenteil. Je mehr diese Positionen vertreten, je mehr sich dann auch konkret darum kümmern, umso besser. Das ist für mich der geringste Aspekt. Ich melde da keine Autorenschaft an.
Ich bin auf das Thema vor Jahren sehr aufmerksam geworden in der Epidemiologie quasi, also in der Erforschung der Ursachen von Krankheiten. Und für uns Epidemiologen ist einfach noch immer erstaunlich, dass die Einsamkeit viele Krankheiten verursacht: Krebskrankheiten, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Demenz wahrscheinlich sogar. Somit ist Einsamkeit ein wichtiger Krankmacher. Und über diese wissenschaftliche Schiene bin ich auf das Thema erstmalig breiter aufmerksam geworden.
Das Interview führte Katharina Geiger.