Ein fremdes Kind wie das eigene aufnehmen

"Wir haben viel Platz in unserem Herzen"

Zu Weihnachten rückt die Familie näher zusammen. Doch nicht überall geht es liebevoll zu. Manche Kinder sind zuhause so gefährdet, dass sie in die Obhut von Pflegeeltern gegeben werden. Was diese oft auf sich nehmen, ist nur mit viel Liebe zu schaffen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Anke und Patrick Schlicker genießen das Glück mit ihrer Pflegetochter. (privat)
Anke und Patrick Schlicker genießen das Glück mit ihrer Pflegetochter. / ( privat )

Mia* schreit. Dass es einem das Herz zerreißt. Und meist ganz unvermittelt. Jedenfalls ohne Vorankündigung. Und sie hört gar nicht mehr auf. Dann wirft sie sich zu Boden. Ist kaum zu bändigen. Oft schlägt und tritt sie dabei um sich oder richtet ihre Aggression gegen sich selbst. Manchmal verletzt sie sich dabei sogar. Alles Beschwichtigen und gut Zureden hilft dann wenig. Bis die Vierjährige scheinbar in sich zusammensackt, mit einem Mal allen Widerstand aufgibt und sich schluchzend in die Arme von Patrick Schlicker fallen lässt, der das Kind nach einem solchen Wutanfall erst einmal lange fest umschlungen hält und beruhigend auf das kleine Mädchen einspricht.

Er und seine Frau Anke wissen mittlerweile, dass das Wichtigste ist, in solchen Momenten nicht die Nerven zu verlieren, selbst beherrscht zu bleiben müssen, um auf diese Weise und mit ganz viel Geduld die Situation für Mia zu entschärfen. Gerade auch weil es oft auf den ersten Blick keinen erkennbaren Grund für diese unberechenbaren Attacken gibt, vermuten sie bei Mia eine Traumatisierung, die weit zurückreicht. Und dass das zarte Mädchen mit den großen dunklen Augen, das im nächsten Augenblick schon wieder befreit lachen kann, sich zärtlich anschmiegt und körperliche Nähe sucht, nichts dafür kann. 

Beziehungsabbrüche sind für das Kindeswohl Gift

Denn Mias leibliche Mutter war mit ihrer Tochter von Geburt an überfordert. Wahrscheinlich hat das Kind daher einen langen Leidensweg hinter sich, den niemand so genau kennt, aber der sich nicht zuletzt auch daran festmacht, dass die Kleine zunächst nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern dem Paar entzogen wird und zur Großmutter kommt. Aber auch diese kann Mia dauerhaft nicht angemessen versorgen. Im Februar 2017 wird der Mutter daher für ein gutes halbes Jahr ein Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung zugewiesen. Da ist Mia gerade mal neun Monate alt.

Doch ein Rückfall der drogenabhängigen 23-Jährigen hat auf erneute Intervention des Jugendamtes die vorübergehende Inobhutnahme von Mia durch eine Bereitschaftsfamilie zur Folge. Trotzdem ist den städtischen Behörden schnell klar, dass diese fortwährenden Beziehungsabbrüche in dieser engen Taktung für das Kindeswohl, das immer an erster Stelle steht, Gift sind und es so nicht weitergehen kann. Sie suchen für Mia nach Pflegeeltern, einer sogenannten Erziehungsstelle, wie das offiziell heißt, bei der wenigstens einer der beiden Elternteile eine pädagogische Qualifikation mitbringen muss.

Ankerpunkt sein für ein hin- und hergeschobenes Kind

Die Schlickers können diese gefragte Kompetenz vorweisen. Anke Schlicker ist Kita-Leiterin und ihr Mann Patrick als Beamter in einer Justizvollzugsanstalt nach einem Unfall im vorzeitigen Ruhestand. "Für mich ein Glücksfall", findet der 49-Jährige rückblickend, weil er so seine freie Zeit ganz für Mia hat, die enorm viel Aufmerksamkeit, Zuwendung und Unterstützung in der Alltagsbewältigung benötigt. "Eine ganz tolle Erfahrung, auch wenn man nie weiß, was gerade in ihrem Köpfchen vorgeht", schwärmt er von dieser Eins-zu eins-Betreuung, die ihm eine intensive Beschäftigung ohne Zeitdruck mit seiner Pflegetochter ermöglicht und die beide zu einem festen Team zusammenschweißt. Ein Pflegekind sei nicht einfach, es bedeute viel, viel Arbeit. Mehr als er sich vorgestellt habe. "Aber unsere Tochter gibt uns auch ganz viel zurück. Sie kann sehr dankbar und unbeschwert sein. Dann geht uns das Herz auf, wenn sie gerade glücklich durchs Leben hüpft und ein Kind wie jedes andere ist", beschreibt er die Freude, Mia seit über zwei Jahren in der nun sechsköpfigen Familie zu haben. 

Ihr einen verlässlichen Halt geben zu können, für sie Ankerpunkt zu sein, an dem sich dieses bislang hin- und hergeschobene kleine Mädchen endlich festmachen kann – das ist das Ziel, dem die Familie, zu der auch noch drei erwachsene Söhne gehören, die mit Hingabe für Mia die großen beschützenden Brüder sind, mit vollem Einsatz hinarbeitet. Feste Rituale, eine gewohnte Struktur seien dabei ganz wichtig, berichtet Schlicker. "Ich mache jeden Morgen das Gleiche, sitze mit meiner Kaffeetasse an Mias Bett, um erst mit ihr zu erzählen und gemeinsam in den Tag zu starten. Dann frühstücken wir, danach geht es zum Zähneputzen und schließlich in den Kindergarten. Doch wenn nur ein winziges Detail an diesem Ablauf verändert wird, verliert sie völlig die Kontrolle und bekommt einen ihrer Schreianfälle."

Anke Schlicker: "Wir wussten sofort, sie ist es!"

Die Nächte seien am schlimmsten, gesteht Anke Schlicker. "Denn Mia verarbeitet alles Erlebte nachts. Dann ruft sie nach ihrer Mama, und es dauert lange, bis sie nach einem schlechten Traum wieder einschläft." Trotzdem lassen sich die Schlickers nicht entmutigen. Im Gegenteil. "Wir lassen uns auf ein Leben mit Mia ein. Wir können gar nicht anders", sagen sie. Denn vom ersten Moment an ist ihnen dieser liebenswerte Wirbelwind mit seinen braunen Locken ans Herz gewachsen, ein Teil von ihnen geworden. "Unvorstellbar, sie je wieder hergeben zu müssen." Von nun an bestehe ihre Aufgabe darin, dieses Kind so sicher zu machen, dass es sich von dieser für sie so notwendigen festen Struktur eingespielter Abläufe eines Tages aus eigener Kraft lossagen könne, erklärt Pflegemutter Schlicker.

"Ich wollte immer schon ein Kind aufnehmen", sagt die gelernte Erzieherin, die mit diesem Wunsch bei ihrem Mann offene Türen einrennt. Sie selbst habe eine so wunderbare Kindheit gehabt mit tollen Eltern, die selbst in schwierigen Momenten immer zu ihr gestanden hätten, erzählt sie, so dass sie von dieser Geborgenheit heute noch zehre und anderen von ihrem Glück etwas abgeben wolle. Auch den Wunsch nach vielen Kindern habe sie immer schon in sich getragen, so dass sich die Entscheidung für Mia genau richtig anfühle. "Als wir sie das erste Mal gesehen haben, wussten wir sofort: Sie ist es!" Trotzdem macht sich die Pädagogin auch Gedanken darüber, dass es noch viele andere Kinder wie Mia gibt, die ebenfalls eine solche Stütze brauchten, um einen guten Start ins Leben zu haben und für die Herausforderungen im Leben gefestigt zu sein. Wenn es nach Anke Schlicker ginge, würde sie daher am liebsten noch mehr Kindern ein Zuhause geben wollen. "Damit sie wissen, wo sie hingehören, Sicherheit bekommen und erfahren, dass sie jemand liebt. Wie viele Kinder erleben das nie!"

Margit Brück: "Nicht verwurzelt zu sein hinterlässt Spuren"

Für die ganze Familie – einschließlich der beiden Großelternpaare – sei es ein langer Prozess gewesen, sich für die Annahme eines fremden Kindes zu entscheiden. Doch mittlerweile würde Mia mit ihrem Charme längst alle um den Finger wickeln. "Wir sind innerfamiliär sehr eng miteinander – Familie ist das Wichtigste für uns – haben daher vorher viel darüber gesprochen und würden es jederzeit wieder machen. Wir hatten ein Zimmer frei, viel Platz in unserem Herzen und Lust zu helfen", bringt es die 49-Jährige auf den Punkt.

Margit Brück, Sachgebietsleiterin "Familiäre Hilfen" der Stadt Köln, ist froh, dass sie im Bedarfsfall auf insgesamt 40 solcher Erziehungsstellen wie die bei den Schlickers zurückgreifen kann. "Oft geht es um bindungsmäßig zutiefst verunsicherte Kinder, für die wir eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie suchen." Normalerweise sei ein Kind am besten bei seiner leiblichen Mutter aufgehoben, und die Hälfte der Kinder gehe irgendwann auch wieder in seine Herkunftsfamilie zurück. "Doch Mias Mutter konnte ihr Kind nicht lesen, nicht verstehen", sagt sie. Mia selbst habe lange keinerlei Schmerzempfinden gezeigt, als das Jugendamt sie von ihrer Mutter trennen musste. "Daher auch diese Autoaggression. Nicht verwurzelt zu sein hinterlässt zweifelsohne Spuren. Denn noch immer lebt das Kind in permanenter Anspannung und gerät bei der kleinsten Verunsicherung in Panik", erklärt die Fachfrau.

Pflegeeltern müssen Erfahrung in der Erziehung mitbringen

Eheprobleme, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Suchtprobleme und Gewalt in der Familie können Gründe sein, warum das Jugendamt sich entschließt, eine Pflegefamilie für Kinder zu suchen. Pflegeeltern sind Wahl-Eltern, die einem Kind oder Jugendlichen eine neue Chance im Leben geben. Sie helfen, einen Heimaufenthalt zu vermeiden und geben dem Pflegekind einen behüteten Platz in ihrem eigenen Leben – aus Überzeugung oft mit viel Herzenswärme. Was nicht immer ganz so einfach ist, wie es sich anhört. Denn Pflegeeltern müssen Zeit, Geduld, Belastbarkeit, Offenheit, Toleranz und – wie gesagt – auch Erfahrung in der Erziehung mitbringen. Aber das sind nur die äußeren Kriterien. Gefragt ist natürlich vor allem eine überzeugende Motivation, ein fremdes Kind wie ein eigenes anzunehmen.

Bis heute hat die leibliche Mutter von Mia auch die elterliche Sorge und das Recht, ihr Kind regelmäßig zu sehen. Solchen Terminen sehen die Schlickers immer mit großer Anspannung entgegen – auch weil jedes Treffen zwischen Mia und ihrer Mutter das Kind erst einmal wieder in seinen Lernschritten, die viel mit dem Aufbau von Vertrauen und Bindung zu tun haben, zurückwirft und sie nach einem solchen Nachmittag ein anderes Kind als vorher zurückbekommen. "Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen dem, was der Mutter rechtlich zusteht, weil sie nun mal die Mutter ist, und dem, was dem Kind gut tut. Das ist nicht immer leicht und oft auch ein Dilemma, das wir sehr behutsam begleiten", betont Brück. Von daher versteht sie auch, dass die Schlickers große Angst davor haben, eines Tages Mia wieder abgeben zu müssen, wenn sich die Situation von Mias Mutter stabilisiert hat und sie selbst wieder für ihr Kind sorgen kann.

Alle Anstrengungen haben sich gelohnt

Soweit es geht, verdrängen die Schlickers diesen Gedanken. Und selbst wenn er sich manchmal in ihr ungetrübtes Familienglück einschleicht, dann machen sie sich gegenseitig Mut. "Das, was wir in ihren Rucksack gepackt haben – Zeit, Geborgenheit und ganz viel Liebe – nimmt ihr niemand mehr", ist Anke Schlicker überzeugt. Und ihr Mann ergänzt: "Emotional ist sie längst unser Kind. Sie gehört zu uns, wir wollen sie nicht mehr verlieren." Auch wenn es oft schwierig sei, weil Mia noch immer nicht über geordnete Empfindungen verfüge – "gibt sie uns so viel mit ihrem verletztlichen Wesen", beteuert der Pflegevater.

Dankbar und auch ein bisschen stolz ist er auf die vielen kleinen Entwicklungsschritte seiner Tochter. "Sie ist offen, kontaktfreudig, sensibel und intelligent. Und wenn ich sehe, was sie alles schon kann – schwimmen, klettern, Fahrradfahren, zärtlich sein und Nähe genießen – dann weiß ich, dass sich alle unsere Anstrengungen Tag und Nacht gelohnt haben. Mia bereichert einfach alle und alles."

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.


Quelle:
DR
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