DOMRADIO.DE: Schon im letzten Jahr war das Abitur eine Zitterpartie. Doch im Vergleich zu diesem Jahr setzte der Lockdown damals zu einem Zeitpunkt ein, als der Unterrichtsstoff bereits weitgehend durchgenommen war. Im Moment machen sich die angehenden Abiturienten berechtigte Sorgen, dass sie sich – weil auch schon viele Stunden in der Q1 ausgefallen sind – manches selbst erarbeiten müssen und sie am Ende schlecht auf ihre Prüfungen vorbereitet sind. Das bedeutet Belastung und Druck. Wie nehmen Sie die jungen Leute wahr?
Burkhard Hofer (Schulseelsorger an der Erzbischöflichen Kölner Liebfrauenschule / LFS): Verständlicherweise sind sie in Sorge. Denn für sie geht es um viel. Schon unabhängig vom Abitur ist für viele das Aussetzen der Präsenzpflicht eine totale Herausforderung. Im Frühjahr sind alle noch in den harten ersten Lockdown und das ungewohnte Arbeiten mit Lernplattformen hineingestolpert; hier sind Schüler und Lehrer mittlerweile besser aufgestellt, auch wenn sie sich angesichts der virtuellen Vermittlung auf eine ganz neue Kommunikation miteinander einlassen müssen. Was zunehmend schmerzlich fehlt, ist der unmittelbare Kontakt. Das gilt auch für mich. Als Seelsorger vermisse ich die üblichen und auch notwendigen Erfahrungs- und Begegnungsräume mit den Jugendlichen.
Alles, was uns gerade auch an einer erzbischöflichen Schule wichtig ist – zum Beispiel die regelmäßigen Schulgottesdienste in allen Stufen – fällt derzeit weg. In der Oberstufe bieten sonst die Religionslehrer auf Kursebene Meditationen und Gottesdienste an. Auch das lässt sich momentan nicht realisieren. Man sieht sich eigentlich nur noch am Bildschirm – wenn überhaupt. Hinzu kommt inzwischen eine gewisse Pandemie-Müdigkeit. In der Summe ist das sehr belastend. Jeder hofft nur noch, dass sich alles bald wieder normalisiert und soziales Leben, was gerade für junge Menschen ihren Alltag ausmacht – nämlich Treffen mit Gleichaltrigen – wieder stattfinden kann.
DOMRADIO.DE: Was bedrückt die Schüler konkret?
Hofer: Keiner kann sagen, wie es absehbar weitergeht, wie sich das Ganze noch entwickelt. Es gibt eigentlich keine verlässliche Perspektive – das macht ja uns allen zu schaffen, aber vor allem eben auch den Schulabgängern, die gerne das "Danach" planen würden. Die aktuellen Bestimmungen gelten bis zum 31. Januar. Nach allem, was man jedoch momentan hört, werden diese vermutlich aber ja noch verschärft. Also, wann endlich wird es wieder Präsenzunterricht geben? Welche Auswirkungen hat das auf die zu bewältigende Stofffülle? Wie kann ich mich vorbereiten? Das sind sehr konkrete Fragen, die die meisten Abiturienten beschäftigen.
In der Presse geistert bereits das Wort vom "Mega-Lockdown" umher. Das lässt die nächsten Fragen aufkommen: Können dann die Abiturtermine überhaupt gehalten werden? Werden sich eventuell die Prüfungsthemen verändern, weil die Lehrer hier mehr Mitsprache bekommen? Klar ist, die Abiturienten wollen das Abitur unter fairen Bedingungen machen. Sie wollen einerseits nicht der Jahrgang sein, von dem es später heißt: Denen ist ja das Abitur geschenkt worden. Andererseits muss genau hingeschaut werden, welche Fülle an Stoff aufgrund der erschwerten Bedingungen verantwortbar geprüft werden kann. Die diesjährigen Abiturienten haben ja auch schon durch die Einschränkungen im gesamten letzten Halbjahr eine Menge Unterricht verloren und damit nicht die Möglichkeiten der Vorbereitung auf ihr Abitur gehabt wie andere vor ihnen. Das kommt erschwerend noch dazu.
Die Angst ist daher zu einem bestimmenden Faktor geworden. Das ist erst einmal eine ganz neue Erfahrung. Nun geht es darum, aus den politischen Entscheidungen das Bestmögliche zu machen. Natürlich ist das schwer, wenn immer andere Regeln gelten, zumal sich alle im Schulwesen Tätigen in einer Art Abhängigkeit von den Verantwortungsträgern in der Politik sehen und es für die Jugendlichen beim Abitur um etwas Existenzielles geht. Für die meisten ist eben entscheidend, mit welchem Numerus clausus sie abschließen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt angesichts der Komplexität von Sorgen und Befürchtungen ein Schulseelsorger? Sind Sie Anlaufstelle für die akuten Themen der 17- und 18-Jährigen?
Hofer: Die Schüler spüren, dass ihre Gefühle wahrgenommen werden. Das ist wichtig, denn in dieser besonderen Situation benötigen sie Ansprechpartner. Damit meine ich nicht einmal nur mich als Seelsorger. Auch die Fachlehrer gehören dazu, zu denen die Schülerinnen und Schüler ja oft den viel direkteren Draht haben. Unsere Schulleitung, der Oberstufenkoordinator, die Stufenleitung und unsere Beratungslehrer – auch sie alle spielen eine große Rolle und sind für die jungen Leute jederzeit ansprechbar, sei es bei Fragen, die das Lernen betreffen, aber auch bei sehr persönlichen Problemen. Wir alle haben hier gewissermaßen einen seelsorglichen Auftrag und sind Teil des Unterstützungsangebots. Dementsprechend geben wir unser Bestes, um unsere Abiturientinnen und Abiturienten so gut wie möglich zu begleiten.
Vieles liegt nicht in unserer Hand. Politische Entscheidungen werden vorgegeben, die wir dann hier an der LFS zum Wohle unserer Schüler so gut es geht umsetzen. Und gerade als kirchliche Schule reagieren wir natürlich besonders sensibel auf die, die es schwer haben. Als Schulseelsorger ist es meine Aufgabe, hier ganz besonders hinzuschauen. Grundsätzlich aber betrachte ich Seelsorge als viel weiter gefasst. Es sind nicht nur alle Lehrer in der Verantwortung, sich zu kümmern, auch die Eltern spielen eine wichtige Rolle. Und auch die Schüler untereinander nehmen, wie ich beobachte, in der Sorge füreinander einen wichtigen Dienst wahr.
DOMRADIO.DE: Genau hinschauen – was können Sie darüber hinaus tun?
Hofer: Wie gesagt, es ist ein ganzes Team, das sich in der Verantwortung für die jungen Menschen fühlt und sie im Blick hat. Wir versuchen dann herauszufinden, was gerade Priorität hat oder dem Einzelnen fehlt, und setzen Impulse. Natürlich müssen diese laufend aktualisiert und dem, was gerade möglich ist, angepasst werden. Wichtig ist, einen wachen Blick und ein offenes Ohr zu haben. Gerade bei den pastoralen Angeboten bringt sich jeder Religionslehrer mit dem ein, was er kann. Das ist mir auch ganz wichtig, doch grundsätzlich will ich die Pastoral auf breitere Füße stellen, das heißt, ein Netzwerk aufbauen, an dem alle – neben den Lehrern auch die Eltern und die Schüler selbst – beteiligt sind.
Und für ein solches Vorhaben brauche ich nun mal alle, weil jeder frische Ideen mitbringt. Ich selbst sehe mich in diesem Kontext als Motivator und Koordinator. Es entspricht dem Selbstverständnis von Kirche, Anteil zu nehmen an Trauer und Angst, aber auch an der Freude und der Hoffnung der Menschen. So gesehen, kann sie gerade jetzt ein wichtiger Begleiter sein. Das ist dann unser Part. Denn unsere Botschaft an die Abiturienten lautet: Ihr seid nicht allein. Wir haben Euch im Blick, sehen Eure Sorgen. Aber vor allem: Gott ist Euch nahe.
DOMRADIO.DE: Wie können Sie in diesen von Unsicherheit geprägten Zeiten auf Ängste und Selbstzweifel reagieren? Welche konkreten Angebote können Sie machen, welche Hilfestellung geben?
Hofer: Zunächst indem ich Kontakt halte. Das ist mir ganz wichtig. Und dann will ich Mut machen – aus meinem Glauben heraus. Daher verfasse ich regelmäßig Impulse an die Schulgemeinschaft, also auch für unsere Schülerinnen und Schüler. Unser Glaube möchte uns Zuversicht, Hoffnung und Mut schenken. Gott ist Mensch geworden, um sich mit uns zu solidarisieren. Das macht doch Hoffnung! Und daraus ergibt sich, dass Solidarität und Nächstenliebe, Toleranz und Respekt für Christen wesentliche Werte sind, die uns in unserem Handeln bestimmen müssen. So wollen wir an der Seite unserer Abiturientinnen und Abiturienten stehen. Und so hoffe ich im Moment, dass wir – wie in den Vorjahren – mit den Abiturientinnen und Abiturienten an ihrem letzten Schultag – in welcher Form auch immer –auch einen Gottesdienst feiern können, in dem diese ihre Sorgen und Ängste, aber auch ihren Dank und ihre Freude vor Gott bringen können – wegen der Abstandsregeln vielleicht dann in mehreren Durchläufen. Oder sie finden in den einzelnen Religionskursen statt; unsere Religionslehrkräfte sind da sehr offen und engagiert. Das haben sie schon in den ganzen letzten Monaten gezeigt – zuletzt noch im Advent.
Außerdem bieten wir für unsere Abiturienten zu den schriftlichen Prüfungsterminen einen "Abi-Kraftraum" an. Alle, die wollen, können vor den Klausuren in dem eigens in der LFS dafür umgestalteten Meditationsraum zur Ruhe kommen, eine Kerze anzünden, einen Impuls lesen, Musik hören und "Kraftfutter" in Form von Traubenzucker bekommen oder ein "Kraftwort", eine kleine Impulskarte, mitnehmen. Dieselbe Anteilnahme wollen wir dann beim Abi-Gottesdienst zeigen, der – so wünschen es sich alle inständig – hoffentlich wieder im Dom stattfinden kann und immer von einem Vorbereitungsteam konzipiert wird. Besondere Zeiten verlangen nun mal besondere Formate. Da sind wir alle gefordert und haben im letzten Jahr bezüglich Flexibilität ja auch eine Menge dazugelernt. Wir werden in den kommenden Wochen genau hinsehen, was für die Abiturientinnen und Abiturienten, aber auch alle anderen Schülerinnen und Schüler der LFS gerade "dran" ist und wie wir darauf gezielt reagieren können.
DOMRADIO.DE: In der Regel bringt die Zeit nach dem Abitur erst einmal die große Freiheit. Da hängt der Himmel voller Geigen, wie es so schön heißt. Viele Abiturienten machen Auslandspläne oder wollen zunächst die Welt kennenlernen. Was bedeutet das für die Lebensplanung eines jungen Menschen, wenn solche großen, vor allem oft auch sozialen Vorhaben wie eine Seifenblase zerspringen und Plan B her muss?
Hofer: So oder so ist das Abitur erst einmal ein Befreiungsschlag. Natürlich atmen alle auf, wenn diese schwierige Prüfungsphase, die im Moment noch viele Unbekannte hat, dann endlich vorbei ist. Da fühle ich sehr mit, gerade wenn zurzeit große Unsicherheit darüber herrscht, wie es in der Endphase werden wird. Viele angehenden Abiturienten haben schon Pläne geschmiedet; sie sind voller Enthusiasmus, etwas Neues – oft auch fern von Zuhause – anzufangen und sich selbst zu finden. Da ausgebremst zu werden, ist hart. Jeder wird schauen müssen, was geht und was nicht. Und jeder hat in den letzten zehn Monaten gelernt, realistisch zu sein und mit dem, was ist, umzugehen. Seit längerem zeichnet sich ja ab, dass die Lage unübersichtlich ist und das vermutlich auch erst einmal so bleibt.
Gerade deshalb wünsche ich allen unseren Schulabgängern Gottvertrauen und Gelassenheit. Ich hoffe, dass sie aus ihrer Zeit an der LFS mitnehmen, dass da einer mitgeht, der sie begleitet, ihnen Mut macht und der Hoffnung und Zuversicht für die nächsten Schritte schenkt. Da bietet uns unser Glaube einfach viel an. Dass sie Gott als treuen Begleiter auf ihren zukünftigen Wegen spüren und erfahren – das ist mein allergrößter Wunsch.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.