DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie denn vor Ort die aktuelle Situation?
Philipp Lichterbeck (Journalist in Brasilien): Da ich in Rio de Janeiro lebe, stellt sich für mich persönlich die Situation anders dar als in Manaus. Ich muss sagen, dass ich selbst vor kurzem Covid-19 hatte, allerdings in einer milden Form. Ich wusste sehr schnell Bescheid, weil ich den charakteristischen Geruchsverlust hatte. Ich habe einen Test gemacht und innerhalb von zwei Tagen auch das Ergebnis gehabt. Und dementsprechend bin ich persönlich jetzt erleichtert, weil ich erst einmal davon ausgehe, dass es stimmt, dass man nach einer Infektion immun ist, zumindest für ein paar Monate.
Ansonsten hat sich in Rio ein gewisser Corona-Alltag eingestellt, bei dem die meisten Menschen versuchen, wieder ihrem alten Leben nachzugehen, zu dem es eben auch gehört, dass man sich auf der Straße zum Bier trifft, am Wochenende an den Strand geht - es ist zurzeit in Rio sehr heiß, zwischen 25 und 40 Grad - oder auch in einem Restaurant mit Freunden essen geht. Und das alles findet statt, und zwar ohne Masken und die physische Distanz.
DOMRADIO.DE: Im Fernsehen sehen wir die Menschen in Rio, wie Sie gerade erzählt haben, wie sie sich wie die Sardinen am Strand Volleyball spielend vergnügen. Das Vergnügen sei ihnen gegönnt, aber es wird einem da schon ein bisschen anders. Fühlen Sie sich jetzt nicht nur ob der Covid-Erkrankung, die Sie schon hatten, sicher in Rio?
Lichterbeck: Man muss der Ehrlichkeit halber sagen, ich habe auch Bilder von Menschen aus Deutschland gesehen, die in Parks zusammensitzen oder an anderen Orten größere Menschenansammlungen gemacht haben. Die Bilder vom Strand wirken natürlich inmitten einer Pandemie völlig absurd, das stimmt. Aber man muss ebenso sagen, dass dort eine ständige Meeresbrise geht, dass die Sonne herunter knallt, dass die Leute lange nicht so nah beieinander sitzen, wie es auf den Bildern, die häufig mit Teleobjektiven aufgenommen wurden, aussieht. Das Problem, finde ich viel eher, sind die überfüllten Züge und Busse, mit denen die Leute am Wochenende aus den Vorstädten an den Strand kommen.
DOMRADIO.DE: Man erwartet eine Verschlimmerung der Situation. Die Politik versagt. Demonstranten in Brasilien fordern die Amtsenthebung von Jair Bolsonaro, der ja von Beginn an diese Gefährlichkeit des Coronavirus verharmlost hat. Wie schätzen Sie diese politische Situation ein?
Lichterbeck: Dem Amtsenthebungsverfahren gebe ich zum jetzigen Zeitpunkt keine große Chance, weil dazu die Mehrheit im Kongress fehlt und weil sich der Prozess über Monate hinziehen würde. Bolsonaro hat in den jüngsten Umfragen immer noch ein Viertel bis ein Drittel der Brasilianer hinter sich. Insbesondere im konservativen Landesinneren, aber auch bei den evangelikalen Christen und insbesondere bei ungebildeteren und ärmeren Menschen. Aber es stimmt natürlich, dass Bolsonaro seit Beginn der Pandemie die Anstrengungen von den Gouverneuren zur Eindämmung des Virus regelrecht sabotiert hat. Er hat die Leute immer wieder zum Bruch der Quarantäneregeln aufgefordert. Er ist selbst ohne Maske unterwegs gewesen, hat sich immer wieder in größere Menschenaufläufe von seinen Fans begeben und er bewirbt bis heute ganz absurder Weise dieses Malariamittel Hydroxychloroquin als Prophylaxe gegen das Virus, dem ja in wissenschaftlichen Studien überhaupt keine Wirkung gegen Covid-19 nachgewiesen werden konnte.
In Brasilien hat vor circa einer Woche auch das Impfen begonnen. Aber auch hier stellt sich Bolsonaro wieder quer und will Zweifel an der Wirkung der Impfstoffe schüren. Er hat wortwörtlich gesagt, dass jeder die Verantwortung habe, wenn er sich impfen lasse. Und wenn er sich in ein Krokodil verwandeln sollte, sei das nicht die Schuld seiner Regierung. In einem Land wie Brasilien mit einem niedrigen Bildungsgrad ist so etwas natürlich fatal, weil viele Leute tatsächlich glauben, es könnte irgendwie gefährlich sein, sich impfen zu lassen.
DOMRADIO.DE: Auf der anderen Seite erreichen uns die Bilder aus Manaus beispielsweise: Das verzweifelte Krankenhauspersonal, das mit manuellen Beatmungsgeräten versucht, die Patienten am Leben zu erhalten. Oder Menschen, die versuchen, ihre Angehörigen irgendwie durch Sauerstoff zu retten, den sie privat organisieren. Wie kann in dieser Situation Nothilfe geleistet werden, Adveniat ist ja zum Beispiel auch vor Ort?
Lichterbeck: Ich habe gestern mit einem Arzt in Manaus telefoniert, der auf einer Intensivstation in einem Hospital arbeitet. Der wirkte sehr müde und sehr erschöpft und sprach vom Chaos und wortwörtlich vom Kollaps des Gesundheitssystems in der Stadt. Also, es fehlt an allem, hat er beschrieben: Equipment, Medikamenten, Betten, Platz und vor allem dem klinischen Sauerstoff. In seiner Einheit bräuchte er dreimal mehr Sauerstoff, als derzeit noch vorhanden ist. Und das führt unweigerlich dazu, dass massenhaft - auch das sein Wort - massenhaft Menschen sterben.
Was kann man da machen? Ja, Adveniat unterstützt zahlreiche soziale und kirchliche Projekte in Manaus und im gesamten Bundesstaat Amazonas, die jetzt irgendwie versuchen, diese Not zu mildern. Ich habe beispielsweise gehört, dass der Erzbischof von Manaus darum gebeten hat, Geld für die Beschaffung von Sauerstoff zu spenden. Ich kenne persönlich den deutschen Bischof Johannes Bahlmann, der in Óbidos stationiert ist. Das ist eine ganz abgelegene Gemeinde direkt am Amazonasfluss. Und dort gibt es mehrere Hospitalschiffe, die von der Diözese unterhalten werden und die Menschen in entlegenen Regionen mit ärztlicher Hilfe versorgen. Auch Bischof Bahlmann wird von Adveniat unterstützt.
Ansonsten hat Adveniat dafür gespendet, dass Kirchengemeinden Lebensmittelpakete unter den Armen verteilen und diese Lebensmittelpakete waren jetzt die ganze Pandemie hindurch ganz essentiell bei der Verhinderung von größerem Elend und von Hunger in Brasilien, weil einfach ganz viele Menschen im informellen Sektor von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden sind. Hinzu kommt, dass die Regierung eine Nothilfe gezahlt hat, von umgerechnet 100 Euro, die zum letzten Mal im Dezember gezahlt worden ist. Im Januar gibt es sie schon nicht mehr. Und schon jetzt kann man sehen, wie die Zahl der Obdachlosen zunimmt - in Rio schlafen sie in langen Reihen im Zentrum. Oder dass auch immer mehr Kinder auf einen zukommen und Bonbons oder Kaugummis verkaufen wollen.Die Situation hier in Brasilien wird jetzt erst noch einmal schlechter und gravierender, bevor sie wieder besser werden könnte, fürchte ich.
Das Gespräch führte Uta Vorbrodt.