Auf der hügeligen Ebene im westlichen North Dakota füllen sich die Gräber in den ewigen Jagdgründen der «Standing Rock Sioux». Das bettelarme Reservat mit nur 8.000 Menschen weist mit 24 Corona-Toten seit Ausbruch der Pandemie eine traurige Bilanz aus. Die meisten Opfer gehörten zu den Stammesältesten, die mit dem kulturellen Erbe enger verbunden waren als die nachrückende Generation.
Ähnlich die Situation bei den Muscogees im Osten des Präriestaates Oklahoma. "Das kommt einer kulturellen Bücherverbrennung gleich", meint der Sprecher des Stammes, Jason Salsman. "Eines Tages wird es niemanden mehr geben, der dieses Wissen weitergeben kann."
Hohe Dunkelziffer
Unter den amerikanischen Ureinwohnern hat das Virus seit Beginn der Pandemie bereits einen von 475 Stammesangehörigen dahingerafft. Das ist laut Angaben des "APM Research Lab" eine um die Hälfte höhere Sterblichkeitsrate als bei den ebenfalls hart getroffenen Afroamerikanern. Und es sind doppelt so viele Corona-Tote im Pro-Kopf-Vergleich wie bei weißen Amerikanern.
Die tatsächlichen Opferzahlen dürften nach Ansicht von Experten weit darüber liegen, weil die Erfassung der Daten bei den Ureinwohnern bestenfalls lückenhaft sei. Am stärksten betroffen sind Stämme in Mississippi, New Mexico, Arizona, Montana, Wyoming sowie Nord- und Süd-Dakota. Wie in allen Bevölkerungsgruppen suchten im Januar nach den Feiertagen besonders viele Menschen Hilfe. Nach Angaben des Projekts "Color of Coronavirus" legte der Trend mit 1.000 Toten unter den Ureinwohnern um 35 Prozent im Vergleich zum Vormonat zu.
Die meisten Opfer beim Navajo-Stamm
Das klingt angesichts der täglich mehr als 3.000 Corona-Toten in den USA zunächst nach nicht viel. Doch die indigene Bevölkerung ist klein. "Der Verlust von einem Prozent unseres Volkes entspricht bezogen auf die Gesamtbevölkerung dem Verlust von drei Millionen Amerikanern", so die Soziologin Desi Rodriguez-Lonebear, die sich an der University of California mit den indigenen Völkern Nordamerikas befasst. "Wir befinden uns mitten in einem gewaltigen Sturm und sind auf die Folgen nicht vorbereitet."
Das gilt für alle 574 staatlich anerkannten Stämme. Die Navajos, die vor allem in New Mexico, Arizona und Utah zu Hause sind, zählen als zweitgrößter Stamm die meisten Corona-Opfer. "Nicht nur, dass die Ureinwohner die höchste Rate an Covid-Todesfällen haben", sagt Andi Egbert vom APM Research Lab. Der Trend beschleunige sich im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen. "Die Lücke wird immer größer."
Große Impfbereitschaft
Stammesälteste und Freiwillige greifen angesichts der bedrohlichen Lage zur Selbsthilfe. Navajo-Frauen starteten eine Kampagne, um Essen und Desinfektionsmittel in entlegene Gebiete zu bringen, in denen die Menschen zum Teil in Wohnwagen ohne fließendes Wasser leben. Wer ein grünes Schild in seine Fenster hängt, signalisiert "Ich bin okay", Rot bedeutet "Ich brauche Hilfe".
Anders als viele Afroamerikaner, die medizinischen Missbrauch in der jüngeren US-Geschichte in ihrem kollektiven Gedächtnis gespeichert haben und deshalb dem Impfprogramm gegen Corona skeptisch gegenüber stehen, wollen die Ureinwohner Amerikas mehrheitlich die Spritze gegen das Virus. Dabei haben die Ureinwohner ähnliches erlebt: Jahrzehntelange Zwangsassimilierung und das Verbot, ihre Sprachen zu sprechen, schürt unter den Stämmen ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung.
Dennoch sind drei Viertel der Ureinwohner bereit, sich gegen das Virus impfen zu lassen, fand das "Urban Indian Health Institute" im Dezember in einer nationalen Umfrage heraus. Das sind 20 Prozent mehr als im Durchschnitt aller Amerikaner.
Erwartungen an Joe Biden
Die Stammesältesten gehen mit gutem Beispiel voran und reihen sich als Erste in die langen Impfschlangen ein. Mit der Kampagne "Be a Good Ancestor" (sei ein guter Vorfahre) übernehmen sie Verantwortung für ihre Völker und senden damit auch ein Signal Richtung Washington.
Sie erwarten vom neuen Präsidenten Joe Biden mehr konkrete Hilfe als dessen Vorgänger - vor allem auch finanzielle.
Bei der Präsidentschaftswahl haben die Ureinwohner Biden geholfen, entscheidende Swing States wie Arizona, Wisconsin und Nevada zu gewinnen. Jetzt fordern sie Unterstützung ein. Zum Beispiel bei der Einrichtung eines indigenen Gesundheitsdienstes. "Die Ureinwohner sind für Biden aufgestanden. Jetzt ist es an der Zeit, für sie aufzustehen", so die Direktorin des indigenen Zentrums für Epidemiologie in Seattle, Abigail Echo-Hawk.
Immer wieder betonen Vertreter der indigenen Völker, dass es nicht bloß um das physische Überleben geht, sondern der Kultur. "Es verschlägt einem den Atem", so der Dakota-Siuox Ira Taken Alive bei der Beerdigung seiner Eltern. "Das Wissen, das sie besaßen, und die Verbindung zu unserer Vergangenheit geht mit ihnen verloren."