DOMRADIO.DE: Letztes Jahr gab es zu Ostern keine öffentlichen Gottesdienste, fast nirgendwo in der EU. Jetzt werden Gottesdienstverbote immer dann diskutiert, wenn die Infektionszahlen wieder steigen. Ist das Coronavirus eine Bedrohung für die Religionsfreiheit?
Kardinal Jean-Claude Hollerich (Erzbischof von Luxemburg und Kommissionspräsident der EU-Bischofskonferenzen): Ich glaube schon. Man darf das aber nicht übertreiben. Es ist nicht so, dass wir als Christen in Europa verfolgt werden. Ich glaube aber, dass die Kirchen mit den Hygienemaßnahmen sehr gut umgehen können und dass es sehr wenig Infektionen in katholischen Kirchen gibt. Es gibt hier Handlungsabläufe, die in der Messe festgelegt sind und da, glaube ich, ist es sehr schwer, sich anzustecken. Wenn man dann sozusagen die Religionsfreiheit auf dem Altar opfert, um andere Gruppen zu beschwichtigen, wird es etwas gefährlicher und das geht nicht.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen den Kulturbereich an. Der Staat verbietet den Kinobesuch und das Theater. Warum dann nicht auch Gottesdienste?
Hollerich: Ich glaube auch bei Konzerten könnte man darüber nachdenken, wie man das organisieren kann, dass Konzerte trotzdem stattfinden können. Allerdings hängt es mit dem Profit zusammen. Ein Orchester muss Geld verdienen. Das ist in der Kirche etwas anderes. Wir tun das nicht nur aus Profit, dass wir da zusammenkommen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Das ist ein berechtigter Grund für die Kultur und in dem Sinne geht es um die Freiheit selbst. Wo es Abläufe gibt, die geregelt sind und wo es strenge Hygienemaßnahmen gibt, muss man sich die Frage stellen, warum man das verbietet.
DOMRADIO.DE: Ist denn die Religionsfreiheit mehr Wert als andere Grundrechte?
Hollerich: Ein Vergleich von Werten ist nicht gut. Aber ich glaube, dass die Religionsfreiheit über der Kultur steht. Es gibt auch eine religiöse Kultur. Diese beiden sind verbunden. Wie gesagt, glaube ich, dass man auch in der Kultur wieder öffnen kann, wenn man strikte Hygienemaßnahmen hat. Das würde auch den Menschen gut tun.
Für die Religion würde ich noch vorausnehmen, dass Religion mehr zur Lösung als zum Problem beiträgt. Es gibt viele Leute, die verzweifelt sind. Ich treffe Jugendliche, die große psychische Probleme haben und ältere Leute, die vereinsamt und verzweifelt sind. Da ist Religion etwas Sinngebendes, gerade jetzt in der Karwoche vor Ostern. Man lernt wieder durch die Riten was Leben ist. Das Leben ist von Gott geschenkt, das Leben liegt in Gottes Hand, man lernt, dass man keine Angst haben muss, dass man geborgen sein kann, auch in der Pandemie, selbst wenn man krank ist, selbst wenn man stirbt.
DOMRADIO.DE: Müssen sich die Christen in Europa jetzt generell stärker wehren, wenn es darum geht, das religiöse Leben einzuschränken, oder müssen wir auch Rücksicht nehmen und uns genauso wie andere Gruppen fügen?
Hollerich: Sicher muss man Rücksicht nehmen. Es geht nicht darum, dass wir das Recht auf Religionsfreiheit absolut setzen und es voll einfordern. Aber wir müssen uns wehren, wenn auf längere Zeit kein Gottesdienst möglich ist.
Und ich glaube, die Staaten sollten das mit den Religionsgemeinschaften diskutieren und zusammen entscheiden. Also wenn der Staat sagt, nur 25 Leute pro Gottesdienst sind erlaubt und das auch für Kathedralen festlegt, die groß genug sind, damit auch mehr Leute in Sicherheit an einem Gottesdienst teilhaben können, dann ist das schon eine Einmischung des Staates, die nicht rechtens ist.
DOMRADIO.DE: Die Forderung nach weniger Grundrechtseinschränkungen seitens der Regierung spielt aber auch Verschwörungsideologen und antidemokratischen Kräften aus der rechten Ecke in die Hände, oder?
Hollerich: Es wird ihnen in die Hände spielen, wenn wir alles nur abnicken. Dann hätten sie wirklich einen Grund, besorgt zu sein. Das tun wir nicht. Wir tun das auch nicht in Feindschaft zu den Regierungen. Wir prangern die Regierungen nicht an, sondern fordern nur das Recht für die Menschen, ihre Religion ausüben zu können, im Rahmen von hygienischen Maßnahmen, abgewogen mit der Gefahrensituation.