Schriftsteller und Jurist Thiele über Recht, Religion und Romane

"Literatur kann für mehr Klarheit sorgen"

​Die Wahrheit der Dinge verstecke sich gern, heißt es im neuen Roman von Markus Thiele. In "Die Wahrheit der Dinge" klingen philosophische Fragen ebenso an wie juristische, es geht um Rassismus, Selbstjustiz und Freundschaft.

Autor/in:
Paula Konersmann
Justitia steht für Gerechtigkeit  / © Daniel Reinhardt (dpa)
Justitia steht für Gerechtigkeit / © Daniel Reinhardt ( dpa )

KNA: Herr Thiele, "Gerechtigkeit ist Wunschdenken", sagt Ihre Hauptfigur, der Strafrichter Frank Petersen. Ist das so?

Markus Thiele (Schriftsteller): Das ist nicht wirklich meine Überzeugung. Die Frage ist, was ist Gerechtigkeit? Sie beinhaltet ein sehr subjektives Element. Wenn zwei Parteien vor Gericht streiten, empfindet derjenige, der gewinnt, das Urteil als gerecht, der Unterlegene eher nicht. Auch in den Medien wird bisweilen sehr kontrovers darüber diskutiert, was als gerecht empfunden wird. Daher könnte man sagen, dass die Gerechtigkeit das Ideal des Rechts ist. Aber man muss realistisch sein - und das bin ich nach 20 Jahren als Anwalt: Recht hat vielfach nichts mit Gerechtigkeit zu tun.

KNA: Romane und Filme zu diesem Spannungsfeld finden reißenden Absatz. Woher kommt diese Faszination?

Thiele: Viele Menschen sammeln Erfahrung mit dem Gericht, etwa wegen eines Streits mit dem Nachbarn. Von meinen Mandanten höre ich häufig, dass sie ernüchtert darüber sind, wie sachlich und emotionslos bei Gericht verhandelt wird. In aller Regel geht es sehr gesittet zu - im Strafprozess wie im Zivilprozess. Zugleich sind die Fragen nach Gerechtigkeit und Schuld einfach spannend. Wer als Schüler mal Süßigkeiten im Kaufmannsladen geklaut hat, erinnert sich zeitlebens daran, wie groß das schlechte Gewissen und die Angst vor Konsequenzen waren. Daher kann man mit den Figuren und ihren Erlebnissen mitfiebern.

KNA: Ihrem Buch liegen gleich zwei reale Fälle zugrunde. Verändert sich dadurch das Schreiben?

Thiele: Bei diesem Stilmittel ist mir wichtig, dass es sich nicht um einen Tatsachenbericht handelt. Es ist nicht mein Ziel, die individuellen Geschichten noch einmal aufzuschreiben, zum Beispiel die von Marianne Bachmeier ...

KNA: ... jener Mutter, die 1981 den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschossen hat.

Thiele: Richtig. Mein Ziel ist vielmehr, eine reale Situation genauer zu betrachten - durch die Brille und Verhaltensweisen meiner Romanfiguren. Ich halte mich an die realen Details, erlaube mir aber die schriftstellerische Freiheit, bestimmte Aspekte weiterzudenken.

KNA: Kann Literatur auf diese Weise Missstände im Rechtssystem aufzeigen?

Thiele: Das sollten Literatur und Kunst insgesamt sogar. Ich verstehe
Literatur als Möglichkeit und als Mittel, komplexe Themen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Für die meisten Menschen sind das Gericht und die Rechtspraxis ein Buch mit sieben Siegeln.
Sie kennen das System nicht und wissen nicht, an welchem Zahnrad sie selbst stehen, wenn sie einmal damit in Berührung kommen. An diesem Punkt kann Literatur ansetzen und für mehr Klarheit sorgen.

KNA: Der andere reale Fall, den Sie aufgreifen, ist der rassistische Mord an Amadeu Antonio Kiowa. Auch Alltagsrassismus kommt im Roman vor. Wie nehmen Sie die Debatte darum wahr?

Thiele: Seit ein paar Jahren habe ich den Eindruck, dass eine latente Fremdenfeindlichkeit salonfähiger geworden ist - und immer noch wird.
Dabei reicht die Feststellung, dass wir ein Problem mit glatzköpfigen Radikalen im Osten haben, nicht aus. Das haben wir, aber das ist nur die extreme und gewaltbereite Spitze des Eisbergs. Auch kann man den Taten solcher Menschen mit den Mitteln des Rechtsstaates Herr werden.
Stärker treibt mich um, wie sehr sich Fremdenfeindlichkeit in alle Gesellschaftsschichten einschleicht.

KNA: Was beobachten Sie genau?

Thiele: Man hört des öfteren Sprüche wie "haste den Neger da drüben gesehen?" So etwas geht nicht. Wenn alte Menschen mit über 80 Jahren solche Begriffe nicht mehr aus ihrem Wortschatz streichen können, weil sie es nicht anders kennen, mag man das noch verstehen. Aber wenn ich das einen Jurastudenten mit Mitte 20 sagen höre, mit drei lachenden Kommilitonen neben sich - dann wird mir Angst und Bange. Es ist ein Anliegen meines Romans, die Diskussion über solche Entwicklungen lebendig zu halten - damit wir es über die Auseinandersetzung wieder besser in den Griff bekommen und die rechtspopulistischen Auffangbecken nicht immer größer werden.

KNA: Können Sie den Anwalt Markus Thiele vom Schriftsteller Markus Thiele trennen?

Thiele: Das muss ich sogar. Wenn ich eine Akte vor mir habe und prüfe, wie ich einen Fall zu bewerten habe, dann denke ich in juristischen Mustern. Wenn ich mich dagegen vor einem weißen Blatt Papier sehe und schreiben möchte, dann geht es um andere Dimensionen.
Dann möchte ich Zusammenhänge herstellen, Texte in einer Sprache verfassen, die schön klingt und den Leser anspricht. Darauf kommt es bei juristischen Texten weniger an - sie müssen nicht schön geschrieben sein, sondern sachlich richtig.

KNA: Religion spielt in Ihrem Roman keine zentrale Rolle, kommt aber doch vor. Trägt sie eher zu rechtlichen Problemen bei - oder kann sie Teil der Lösung sein?

Thiele: Sowohl als auch. Das ist wohl eine typische Juristen-Antwort.
Ich meine damit, dass es genau hinzuschauen gilt. Religion kann Trost geben und auch wesentliche Diskussionsbeiträge liefern, um der Situation Herr zu werden, die ich eben skizziert habe. Im Grundsatz ist Religion für Menschen gemacht, nicht gegen Menschen. Zugleich kann sie für Fanatismus missbraucht werden.

KNA: Juristische Debatten über die Grenzen der Religionsfreiheit gibt es immer wieder. Was würden Sie sich für diese Auseinandersetzungen wünschen?

Thiele: Etwas mehr Respekt und Aufeinander-Zugehen. Bevor wir uns eine Meinung bilden und damit in die laute Öffentlichkeit gehen, sollten wir uns Gedanken machen. Für viele Handlungsweisen des Menschen gibt es unterschiedliche Antriebe, die einem anderen unbekannt oder schwer verständlich sind. Wenn wir diese Andersartigkeit tolerieren können, ist schon eine Menge gewonnen.


Quelle:
KNA