Noch in der Nacht des gescheiterten Militärputsches vom 15. Juni 2016 benannte Recep Tayyip Erdogan in einer Fernsehansprache den angeblichen Drahtzieher: Die Massenbewegung des Predigers Fethullah Gülen stecke hinter dem Coup, polterte der türkische Präsident gegen seinen früheren Verbündeten.
In den folgenden Monaten wurden Zigtausende "Fethullahcis" verhaftet oder verloren ihre Posten im Staatsapparat, Gülens Medienimperium und Unternehmen, die Schulen und Hochschulen der Bewegung hinweggefegt von Erdogans Rache.
Der Staatsfeind Nummer Eins verfolgte die Dinge aus seinem Exil in den USA. Dort begeht Gülen am 27. April seinen 80. Geburtstag, das Ende seines Lebenswerkes vor Augen.
Konservativer Islam und moderne Wissenschaft
Jahrzehntelang war der Geistliche die einflussreichste Autorität im türkischen Islam - und die politisch umstrittenste. Geboren 1941 in der ostanatolischen Provinz, scharte er nach seiner theologischen Ausbildung mit charismatischen Predigten landesweit Anhänger um sich.
Seine Kernbotschaft: Konservativ-sunnitischer Islam und wissenschaftliche Moderne sind kein Widerspruch, im Gegenteil. Dazu integrierte Gülen Ideen der Völkerverständigung und des interreligiösen Dialogs in seine Lehre. Neben Frömmigkeit und guten Taten forderte er von den Muslimen vor allem eins: Bildung, Bildung, Bildung. "Baut Schulen statt Moscheen!"
"Hizmet" wurde zur Massenbewegung
Gülens Mixtur aus Glaube und Fortschritt traf den Nerv vieler im aufstrebenden türkischen Mittelstand, die im strengen Laizismus von Republikgründer Kemal Atatürk eine religiöse Heimat vermissten.
Gülens Gemeinschaft "Hizmet" ("Dienst") wuchs ab den 1980er Jahren zur Massenbewegung. Zu ihren besten Zeiten sollen bis zu acht oder zehn Millionen Muslime dem "Hodscha efendim", dem ehrenwerten Lehrer gefolgt sein. Auf dieser Machtbasis strebte Gülen eine tiefgreifende Umgestaltung der türkischen Gesellschaft im Sinne einer islamischen Renaissance an.
International präsent
Neben Schulen und Universitäten gründeten die Fethullahcis Radiostationen und TV-Sender, die auflagenstarke Zeitung "Zaman", Buchverlage und Stiftungen, Banken und Firmen. Gleichzeitig drängten gut gebildete Gülenisten auf Geheiß ihres Meisters an die Schaltstellen des türkischen Staates.
Ab den 1990er Jahren gewannen sie führenden Einfluss im Innen- und Justizministerium, übernahmen Posten in der Polizei, stellten Richter und Staatsanwälte. Dank der großen türkischen Diaspora expandierte die Bewegung auch im Ausland.
In mehr als 50 Ländern ist sie mit Schulen, Organisationen und "Dialogvereinen" präsent. Auch in Deutschland bestehen Schulen, Studentenhäuser und 150 Nachhilfezentren.
Islamistische Agenda befürchtet
Die kemalistischen Eliten vermuteten hinter dem unheimlichen Aufstieg des Hodscha stets eine islamistische Agenda zur Übernahme des laizistischen Staates, die selbst vor dem Allerheiligsten, der Armee, nicht haltmachte. Als 1999 ein geheimes Video auftauchte, in dem Gülen seine Anhänger offen dazu aufrief, das System zu unterwandern, floh der Prediger vor einem Prozess in die USA, ohne in der Türkei an Einfluss zu verlieren.
Dafür sorgte sein Pakt mit dem künftigen Präsidenten Erdogan. Beide einte das Ziel, der Türkei im Zeichen der Reislamisierung neue nationale Größe zu verschaffen und den kemalistischen "tiefen Staat" zu bekämpfen. Doch ab 2010 zeigte das Männerbündnis Risse. Gülen missbilligte nicht nur Erdogans Zugehen auf die Kurden und seinen israelfeindlichen, antiwestlichen Kurs, sondern gülenistische Staatsanwälte wagten auch Korruptionsermittlungen gegen regierungsnahe Kreise, darunter Erdogans Sohn.
Offenbar gelang es der Bewegung auch, in Teilen der Armee Fuß zu fassen. Eine Mitwirkung am Putsch von 2016 hat Gülen vehement bestritten. "Die Mehrheit der Türken glaubt aber, dass er dahintersteckt", sagt Yunus Ulusoy vom Essener Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.
"Anatolischer Gandhi" ohne Nachfolger
Wer ist der Mann mit dem grauen Haarkranz und der sanften Stimme, der nach außen wirkt wie der gütige Großvater und gute Kontakte zur CIA haben soll? Kritiker meinen, unter dem Lack dialogreicher Botschaften des "anatolischen Gandhi" verberge sich ein zutiefst reaktionäres Islamverständnis mit der Scharia im Zentrum. Sie verweisen auf Äußerungen, in denen Gülen die Todesstrafe für Konvertiten rechtfertigt, den Dschihad preist, Demokratie und Frauenrechte relativiert.
Seine Ablehnung der Evolutionslehre, die er für "atheistischen Materialismus" hält, weckt Befremden. Auch der sektenartige, streng hierarchische Charakter der Bewegung stößt auf Misstrauen.
"Gülen ist kein Islamreformer", sagt Ulusoy. Er glaubt nicht, dass die Fethullahcis den Verlust ihrer türkischen Machtbasis verkraften werden. "Außerdem hat der Hodscha keinen Nachfolger aufgebaut."