Kirchenaustrittswelle: Neues Projekt hält dagegen

"Jeder, der geht, fehlt schmerzlich"

Nicht tatenlos zusehen, wenn Menschen aus der Kirche austreten, wollen Kreisdechant Christoph Bersch und Diakon Patrick Oetterer. Sie fragen nach und bieten Zeit zum Zuhören an. Verletzung heile nur, wenn man an deren Wurzel gehe, sagen sie.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Jeder Brief vom Amtsgericht, der auf seinem Schreibtisch landet, gibt Pfarrer Christoph Bersch einen Stich. Wieder hat ein Mitglied seiner Pfarreiengemeinschaften der Kirche den Rücken gekehrt. Und das in letzter Zeit immer häufiger. Waren das früher eher anonyme und "diskrete" Vorgänge, wie er sagt, weil sich stillschweigend jemand verabschiedete, der ohnehin nie sichtbar im Gemeindeleben aufgetaucht war, wird heute offen darüber gesprochen. Und der Seelsorger kennt mittlerweile den einen oder anderen sogar persönlich. Auch weil nun nicht nur die passiven Mitglieder gehen, die für sich schon lange eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen und jetzt endlich einen triftigen Anlass gefunden haben, sondern auch die aus dem "inner circle". Zum Beispiel eine Frau Mitte 50, die noch vor gar nicht langer Zeit mal Firmkatechetin war oder ein Endsechziger, der gefühlt Jahrzehnte im Kirchenchor gesungen hat.

Mit nur einem Satz kommuniziert die zuständige Behörde dem jeweiligen Pfarrer, dass sein Gemeindemitglied am Tag X aus der Kirche ausgetreten ist. Es ist ein formloses Schreiben, kaum mehr als eine Information. Eigentlich etwas, was man zu den Akten legt. Doch das kann Bersch, der als Kreisdechant für den gesamten Oberbergischen Kreis, wo über 78.000 Katholiken leben, und als Pfarrer für den Sendungsraum Oberberg-Mitte/Engelskirchen mit knapp 23.000 Gläubigen zuständig ist, nicht. Wie hoch die Zahlen tatsächlich liegen, sehe er erst am Ende des Jahres, sagt er. "Gefühlt aber viele."

Persönlicher Brief an ausgetretene Gemeindemitglieder

Es klaglos hingenommen, wie die Herde seiner Schäfchen immer kleiner wird, hat Bersch noch nie. Er will nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen, dass jemand – manchmal sogar noch im hohen Alter – einfach keinen Sinn mehr in seiner Zugehörigkeit zur Kirche sieht oder innerlich den Schritt, der manchmal auch ein abrupter Bruch ist, schon längst vollzogen hat. Erst recht nicht, wenn er dahinter eine Enttäuschung, zumindest unerfüllte Erwartungen, manchmal aber auch eine tiefe Verletzung erahnt. Seit Jahren schreibt er jedem, der ausgetreten ist, einen persönlichen Brief. Manchmal sofort, manchmal aber auch erst mit zeitlichem Abstand.

Dann spricht er darin zunächst von seiner eigenen Glaubensgewissheit, von den Menschen, die ihm auf seinem Glaubensweg stets verlässliche Begleiter waren; davon, welchen Reichtum ihm die Kirche und die Botschaft von Jesus Christus bedeuten, und welchen Schatz er in den Sakramenten sowie Gottesdiensten für sein Leben entdeckt hat. Er gibt Zeugnis davon, wie dieser ihn durch Krisen trage, und erzählt von der einen besonderen Perle, um deretwillen jemand sein gesamtes Hab und Gut verkauft. Er zitiert das dazugehörige Gleichnis aus dem Matthäus-Evangelium und schreibt von der Liebe Gottes, die es weiterzugeben gelte.

Vor allem aber geht Bersch einfühlsam auf seinen Adressaten ein, spricht vermutete Beweggründe an und eröffnet ihm alle Möglichkeiten, die einmal getroffene Entscheidung noch einmal neu zu überdenken, gegebenenfalls zu revidieren. Am Ende lädt er zu einer Kontaktaufnahme ein. In all dem kommt zum Ausdruck: Es fällt ihm schwer, jemanden "verloren" zu geben. Entsprechend betont er: "Mit einem solchen Brief versuche ich nur, ein Angebot zu formulieren, aber keinen Druck auszuüben. Dann machen die Leute sowieso zu." Grundsätzlich, so seine Überzeugung, dürfe es nicht darum gehen, sich mit der Gemeinschaft der Gläubigen auf eine kleine Elite zusammenzuschrumpfen. Im Gegenteil. "Jeder ist für unsere Kirche unverzichtbar. Und jeder, der geht, fehlt schmerzlich."

Mit Gesprächsangebot an die Wurzel einer Verletzung gehen

Als Ergänzung dazu will Diakon Patrick Oetterer, Subsidiar im Sendungsraum Oberberg, dort Leiter der +CulturKirche und Mitarbeiter im Bistumsreferat "Geistliches Leben und Exerzitienhaus", das nun neu initiierte Pilotprojekt eines "geistlichen Gesprächsangebots" verstanden wissen. "Wir gehen davon aus, dass die immer wieder zum Ausdruck kommende Enttäuschung über die Kirche und die Verantwortlichen ‚da oben’ sowie die damit verbundene Abkehr von Kirche nicht unbedingt zu einem Verlust an eigener spiritueller Sehnsucht und dem Aufgeben der persönlichen Gottesbeziehung geführt haben. Daher wollen wir für Kritik oder angestauten Frust ein offenes Ohr haben und vor allem Zeit mitbringen, um zu verstehen, was den Einzelnen bewegt. Wir sind für die da, die mal schreien wollen, ohne dass wir gleich die Schotten dicht machen." Es gebe viele Menschen, die religiös auf der Suche seien, von unterschiedlichen Fragen umgetrieben würden und sich erst einmal nur mit der Option eines Austritts beschäftigten. "Als Kirche nehmen wir das sensibel wahr, hören genau hin und wollen auskunftsfähig sein", erklärt Oetterer.

"Auch wenn es illusorisch ist, die momentane Welle der Kirchenaustritte mit einem solchen Gesprächsangebot aufhalten zu wollen", argumentiert Pfarrer Bersch, "ist es doch wichtig, mit der Welle mitzugehen und herauszufinden, was jemanden veranlasst, einen solchen Schritt zu gehen. Ihm aber auch für die Zeit zu danken, die er mit dabei gewesen ist." Kirche sei ja nicht die einzige Form, für sich selbst einen guten Weg zu finden. Da gäbe es ja noch ganz viele Mitbewerber für gelingende Lebensentwürfe. Eine Gemeinde könne für manch einen eben auch ein enges Korsett sein. "Warum das aber so ist, wollen wir verstehen. Daher möchten wir mit unserem Gesprächsangebot in die Tiefe gehen, auch an die Wurzel einer möglichen Verletzung in der Vergangenheit. Eine heilsame Entwicklung ist nur möglich, wenn sich jemand den Ursachen seiner Wunden stellt." Manchmal dauere es Jahre, bis jemand dazu bereit sei. Dann brauche es einen langen Atem. "Schließlich ist aber ja auch Glaube meist ein lebenslanger Prozess."

Differenziert zuhören, was jemand mitzuteilen hat

Oetterer zeichnet dabei das Bild einer "Kirche in der Spur Jesu", wie er das nennt. "Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche, die sich – gerade in der derzeit angespannten Lage mit einem hohen Vertrauensverlust – auf die eigene Glaubwürdigkeit hin befragen lässt. Wir müssen zu einer Haltung kommen, mit der wir signalisieren, dass sich Kirche auf die Menschen hin öffnet und die Auseinandersetzung nicht scheut. Damit jemand sagen kann: Ich habe da etwas für mich entdeckt – das haut mich um; das ist berührend und ein großes Geschenk." Der Mensch sei ein komplexes Wesen. Da könne es ohnehin nicht um einfache Antworten gehen.

Letztlich schaue man nicht hinter jede Fassade – auch nicht in einem geistlichen Gespräch. Die Grundvoraussetzung sei, was im Übrigen die vornehmliche Aufgabe eines geistlichen Begleiters sei, differenziert zuzuhören, was genau jemand mitzuteilen habe, und dahinter auch die inneren Nöte und Sorgen zu erkennen. "Man muss auch zwischen den Zeilen lesen können, die ganze Ambivalenz, die sich da mitunter offenbart, aushalten und gemeinsam im Gespräch die nächsten Schritte abtasten. Denn zu einem Glaubensweg gehören auch Umwege, Zeiten des Fallens und Zerknirschtseins, manchmal sogar Depressionen."

Seelsorgliches Versagen muss demütig machen

Schließlich gehe es nicht immer nur um Schwarz-weiß-Malerei oder gängige Pauschalvorwürfe, die die derzeit akut diskutierten Themen Missbrauch oder Homophobie beträfen, weiß Seelsorger Bersch aus Erfahrung. "Daher ist es wichtig, vor allem ein Forum der Wertschätzung und eines respektvollen Dialogs zu schaffen, damit jeder das Gefühl vermittelt bekommt, er wird mit seinem konkreten Anliegen ernst genommen." Grundsätzlich stecke hinter dieser immer offenkundiger demonstrierten Abwehrhaltung gegenüber der Institution Kirche eine gehörige Portion negativer Energie. Früher hätten viele Menschen ihre Kraft ins Gemeindeleben investiert und sich dort engagiert. Was sich da mit einem Mal verändert habe, wolle er im Dialog herausarbeiten. Jeder Kirchenaustritt fordere die Seelsorge heraus, sei aber nun mal auch der Preis für die Freiheit der Kinder Gottes.

"Uns muss klar sein, dass wir Schuld auf uns geladen und die Menschen oft berechtigte Gründe haben, der Kirche den Rücken zu kehren. Gerade wenn wir als Seelsorger versagt haben oder nicht da waren, als wir gebraucht wurden. Das muss uns demütig machen", findet er. Jesus Christus sei nicht in die Welt gekommen, um zu herrschen, sondern um zu dienen, formuliert Bersch es biblisch. Das Dasein Gottes lasse sich glaubwürdig nur über Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Demut und ein echtes fortlaufendes Interesse an den Menschen vermitteln – und schon lange nicht mehr über Glanz und Pracht.

Vielmehr sei heute wechselseitiges Lernen angesagt. "Außerdem müssen wir akzeptieren, dass der andere auch recht haben kann und wir als Kirche – jenseits der Person Christi und unseres Glaubensbekenntnisses – nicht allein die Wahrheit für uns beanspruchen dürfen. Wir können uns lediglich gemeinsam auf die Suche nach ihr machen und dabei jedem, der hadert, das Signal senden: Die Tür steht jederzeit offen."


Zuständig für Oberberg: Kreisdechant Christoph Bersch / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zuständig für Oberberg: Kreisdechant Christoph Bersch / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Diakon Patrick Oetterer will der Austrittswelle entgegensteuern / © Beatrice Tomasetti (DR)
Diakon Patrick Oetterer will der Austrittswelle entgegensteuern / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR