Moraltheologe über Spiritualität jenseits aller Religionsgrenzen

Eintauchen in eine tiefere Wirklichkeit

Selbst Atheisten sagen von sich, spirituell zu sein. Kann das sein? Durchaus, findet der Moraltheologe Michael Rosenberger. In seinem neuen Buch wagt er eine Annäherung an das Thema Spiritualität.

Autor/in:
Angelika Prauß
Meditativer Gebetsraum / © Harald Oppitz (KNA)
Meditativer Gebetsraum / © Harald Oppitz ( KNA )

Fast jeder hat ein grobes Gefühl dafür, was Spiritualität ausmacht, doch packen lässt sie sich schwer. Wie ein Grundrauschen zieht sie sich durch alle Glaubensüberzeugungen. Der Linzer Moraltheologe Michael Rosenberger definiert sie als eine Art "Tiefendimension" - jenseits aller einengenden Definitionen durch Religionen und Glaubensgemeinschaften. Für ihn ist Spiritualität "eine Lebenspraxis, die Menschen aller Religionen und Weltanschauungen offensteht" und vielerlei Gestalt zeigt.

Kein Mensch komme ohne etwas aus, "was ihn im Innersten bewegt und erfüllt, woraus er schöpft und wofür er brennt", schreibt der Theologe. In seinem Buch "Was der Seele Leben schenkt. Spiritualität aus Erde" nähert er sich "von unten" an das Phänomen, ausgehend von elementaren menschlichen Erfahrungen. Eine solche Sicht befreie nicht nur die kirchliche Spiritualität "von ihrem ideologischen Überbau".

"Zustand der Hyperkomplexität"

Mit seiner eigenen Religion geht der Moraltheologe durchaus kritisch ins Gericht. "In den 2000 Jahren ihrer Existenz haben die christlichen Kirchen das Glaubensgebäude und die spirituelle Praxis immer komplizierter und damit gegenwärtig sehr kompliziert gemacht". Entstanden sei ein "Zustand der Hyperkomplexität" und ein abschreckender, undurchdringbarer Dschungel aus Vorschriften.

Rosenberger möchte zurückkommen zu einer einfachen, offenen "aus echter Innerlichkeit genährten Spiritualität", die Herz und Seele anspricht. Bei seiner Beschäftigung mit dem Thema über Konfessions- und Religionsgrenzen hinaus, erkennt er das Verbindende und Dahinterliegende, "das viel tiefer wurzelt als das Unterscheidende". Aus seiner Sicht kann sich so eine "Ökumene des Geistes" einstellen, die wirklich spirituelle Menschen - auch Atheisten - "in großer innerer Freiheit" verbindet.

Allen Formen von Spiritualität eint nach Rosenberger "eine andere, tiefere Wahrnehmung von Wirklichkeit". Weil solch eine Tiefendimension zwar staunend zu erspüren, rational aber kaum zu ergründen ist, geht es aus seiner Sicht mehr um eine Annäherung, ein Herantasten an das Geheimnis des Seins und des großen Ganzen. "Im Geheimnis kann ein Mensch daheim sein und Vertrauen in die Gutheit seines Lebens finden."

Geistliche Übungen

Ein Weg dorthin führt über das sinnliche Erleben. Rosenberger verweist auf den französischen Philosophen und Religionskritiker Albert Camus, der bei einem schlichten Bad im Meer eine "ungeahnte Verbundenheit mit allem Seienden" erlebt habe. Auch Ordensgründer Ignatius von Loyola setzt auf ein ganzheitliches, sinnliches "Spüren und Verkosten der Dinge von innen her", wie dieser in seinen geistlichen Übungen schreibt. Das Geheimnis erschließt sich demnach "nicht abgehoben von den irdischen Dingen, sondern in ihnen und durch sie hindurch", betont Rosenberger.

Spiritualität sei nicht zu verwechseln mit Wellness oder Zur-Ruhe-Kommen, stellt der Autor klar. Sie wolle mit Geduld, Disziplin und Beharrlichkeit erworben und vertieft werden.
Rosenberger liefert in seinem Buch hilfreiche Übungen, die dazu einladen, selbst auf Tuchfühlung mit dem "Geheimnis" zu gehen: vom Tagesrückblick, den schon Ignatius empfohlen hat, bis zur Meditation der eigenen Sterbestunde und dem Verfassen eines geistlichen Testaments.

Ausschau nach "heiligen" Dingen halten

Rosenberger lädt dazu ein, gezielt Ausschau zu halten nach "heiligen" - im Sinne von "das Innerste berührend, heilend, weitend" - Texten, Musikstücken, Kunstwerken oder auch Naturphänomenen, die in verdichteter Form Zugang zu der Wirklichkeit in ihrer Tiefe schenken. 
Zugleich ermutigt Rosenberger, sich Menschen zu suchen, mit denen man seine spirituelle Erfahrungen teilen kann. "Der klassische Ort kirchlichen Lebens, die Pfarrei, ist dabei meist keine große Hilfe", schreibt der Moraltheologe. Oft wiesen deren Angebote "wenig spirituellen Tiefgang" auf. Eher finde man spirituell Gleichgesinnte in geistlichen Zentren wie Häusern der Stille, in manchen klösterlichen Gästehäusern oder auf Pilgerwegen.

Bei allem Bemühen, sich der Tiefendimension des Lebens anzunähern - Spiritualität kann man nicht "machen". Für Rosenberger ist sie ein Geschenk, ein Geschehen- und Sich-Berühren-Lassen, eine "Lebensaufgabe". Rosenberger war das Buch ein "Herzensanliegen", das spürt man beim Lesen. Ihm ist damit eine kluge wie verständliche Annäherung an ein abstraktes Thema gelungen, über das schon viel geschrieben wurde. Sein offener, über alle Religionsgrenzen hinausreichenden Zugang an das Phänomen der Spiritualität dürfte selbst Atheisten ansprechen. Glaubenden Menschen macht das Buch Lust, noch mehr auf Tuchfühlung mit jener Dimension zu gehen, die ihr Leben trägt.


Quelle:
KNA
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