KNA: Was macht es mit Menschen, wenn sie ihren Glauben nicht (mehr) in Gemeinschaft ausüben können?
Monsignore Georg Austen (Generalsekretär des Bonifatiuswerks): Wir Menschen sind soziale Wesen und leben durch Beziehung. Im privaten Leben und auch in einer Glaubensgemeinschaft knüpfen wir Lebensfäden; so entsteht ein Netz, das uns durchs Leben trägt und in schwierigen Zeiten Halt gibt. Christ sein verlangt nach Nähe und Kontakt.
KNA: In der Pandemie ist aber gerade das oft nicht möglich...
Austen: Die Krise zwingt uns schon lange, umzudenken und andere Wege zu gehen. Ich erlebe gerade einen sehr großen Einsatz - sei es in den Gemeinden oder auch in sozial-caritativen Einrichtungen -, um der Vereinzelung entgegenzuwirken und christliche Nächstenliebe spürbar zu machen. Für viele Menschen ist der Glaube existenzrelevant - das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.
Zugleich müssen wir derzeit durch Kontaktbeschränkungen auf manche wertvolle christliche Rituale verzichten - bis hin zu geänderten Rahmenbedingungen bei Begräbnissen. Rituale sind aber sinnstiftend und sinndeutend; sie geben uns Trost, auch in trostloser Zeit. Wenn wir uns nicht gut von unseren Verstorbenen verabschieden können, werden in unserer Seele Wunden geschlagen. Diese müssen auch von den Seelsorgern gesehen werden und bedürfen der Heilung.
KNA: Spüren die Menschen - weil sie mehr auf sich selbst zurückgeworfen sind - auch, ob ihr Glauben überhaupt trägt?
Austen: Diese Ausnahmesituation bringt Menschen sicherlich dazu, wesentlicher zu werden. Die Konfrontation mit Ohnmacht, Ängsten, Krankheit und auch mit Sterblichkeit, die durch das Coronavirus ausgelöst wird, verstärkt diese Auseinandersetzung und auch die Selbstreflektion.
Dabei spielt der Glaube oft eine wichtige Rolle. Wir erleben eine Bewährungsprobe für den Glauben, die zusätzlich durch die aktuelle Krise unserer Kirche belastet wird. Es gilt, diese weiter konsequent aufzuarbeiten. Zugleich spüren Menschen, dass der christliche Glaube ihnen in Krisenzeiten trotz allem Kraft und Hoffnung schenken kann.
KNA: Haben Sie Tipps aus Ihrem Engagement in Diasporaregionen, wie man mit der Vereinzelung im Glauben besser umgehen kann?
Austen: Entscheidend scheint mir die Frage der Haltung. In unseren katholischen Gebieten wird das Versorgungs- und Anspruchsdenken stark auf die Probe gestellt. Menschen in glaubensgeprägten Gebieten merken plötzlich, dass es auch auf ihre eigene Initiative und Kreativität ankommt, wenn beispielsweise keine Präsenzgottesdienste möglich sind: Wie gestalte ich die Hauskirche mit der Familie oder alleine und kann dabei mir entsprechende Andachtsformen finden? Wie kann ich mit den Corona-Erfahrungen über den Glauben ins Gespräch kommen?
Leben in der Diaspora kostet mehr Kraft, aber es gibt auch Kraft. Diejenigen, die schon in der Vereinzelung leben, sind es gewohnt, für ein kirchliches Angebot und das Treffen von Glaubensgeschwistern weite Wege in Kauf zu nehmen. In der Vereinzelung können Zusammenhalt und Solidarität wachsen. Weniger bedeutet in der Diaspora oft mehr.
Ich möchte die Diaspora aber nicht glorifizieren - sie ist eine Form, mit allen Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten dem Glauben eine Gestalt zu geben.
KNA: Wächst durch die gefühlte Diasporasituation auch das Gespür für Katholiken in echten Diasporagebieten? Kann so auch größere Solidarität entstehen?
Austen: Diaspora hat verschiedene Gesichter, und sie beginnt schon vor der Haustür. Schon vor der Pandemie haben wir in Deutschland neben der zahlenmäßigen Diaspora eine Glaubensdiaspora erlebt: Selbst in katholischen Kerngebieten nehmen immer weniger Menschen am kirchlichen Leben teil; diejenigen, die ihren Glauben leben, fühlen sich nicht selten allein. Auch sie sollten unsere Solidarität spüren.
Gerade in den Diasporagebieten Nordeuropas ist den Menschen - viele Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund - der gemeinsame Gottesdienst sehr wichtig. Sie setzen viel Zeit und Kraft ein, um den Glauben miteinander zu feiern und das Leben zu teilen. Menschen erleben den Glauben dort als große Kraft und die Kirche als internationale Solidargemeinschaft, die ihnen Heimat gibt. Andere Menschen und Lebensstile werden auch als Bereicherung erlebt. Das wünsche ich mir auch für uns in Deutschland.
KNA: Glauben Sie, dass die unfreiwillige Diaspora-Erfahrung vieler Katholiken hierzulande das Gespür für die Situation in klassischen Diasporaregionen stärkt - und auch die Bereitschaft, zu spenden?
Austen: Ich kann mir nur wünschen, dass der Blick über den Tellerrand hinaus gestärkt wird und dass wir erleben, dass wir in dieser schwierigen Zeit zusammenstehen. Katholiken in einer Minderheitensituation können uns auch Vorbild sein, und sie verdienen gerade jetzt unsere Unterstützung.
Schon vor Corona haben sich viele deutsche Katholiken durch Spenden für Menschen in Diasporagebieten solidarisch gezeigt, dafür sind wir sehr dankbar. Wir werden diese Unterstützung weiter brauchen. Denn durch Corona erleben wir hier wie dort neue Existenzsorgen. Manche Spender haben nun selbst wirtschaftliche Probleme, auch die massiv eingebrochenen Kollekten machen uns Sorgen. Weil viele Menschen eine größere Spendenbereitschaft gezeigt haben, konnten wir 2020 trotz Corona gerade sozial-caritative Projekte verlässlich fördern und die notwendige Seelsorge unterstützen.
KNA: Schon ohne Corona ist es in Skandinavien nicht so einfach für Katholiken, ihren Glauben zu leben. Wie hat sich die Situation unter Corona verändert?
Austen: Die Gemeinden sind flächenmäßig groß und weitläufig, aber zahlenmäßig klein. Je länger die Krise anhält, desto schwieriger wird es, in Verbindung zu bleiben. Als Diasporahilfswerk unterstützen wir in unserem möglichen Rahmen, was dort an Seelsorge, Beziehungsarbeit und Kreativität geschieht, etwa über digitale Angebote. Lettland hat beispielsweise sehr schnell reagiert und bei Gottesdiensten und Gebetsgruppen auf Online-Formate umgestellt.
KNA: Und wie helfen Sie derzeit hierzulande konkret?
Austen: Wir haben zuletzt besonders Homeschooling-Initiativen unterstützt, etwa in Berlin. In Kiel fördern wir die ökumenisch angelegte RadioKinderKirche, weil viele Kindergottesdienste ausfallen müssen. Auch Jugendeinrichtungen haben wir verstärkt geholfen. Gerade in diesen wichtigen Anlaufstellen für junge Menschen mit Lebensbrüchen sind viele Einnahmen weggebrochen.
Wir stehen also auch in deutschen Diasporagebieten Menschen zur Seite. In vielen Pfarreien werden unsere Boni-Busse eingesetzt für Fahrten zu möglichen Gottesdiensten. Die Busse werden auch genutzt, um Masken zu transportieren, Menschen zu Impfzentren zu bringen oder als Einkaufsservice für Senioren. Es ist sehr positiv, was da in unseren Gemeinden geschieht. Da nehme ich eine starke Einsatzbereitschaft und Solidarität wahr.
Das Interview führte Angelika Prauß.