Die Bilder verstören: Brennende Autos und Synagogen, in blinder Wut eingeschlagene Fensterscheiben von Landenzeilen, rasende Mobs, die Jagd auf Menschen machen. In vielen Städten Israels mit gemischt arabisch-jüdischer Bevölkerung ist die Gewalt auf den Straßen in den vergangenen Tagen gefährlich eskaliert. Was zu Ramadanbeginn als lokaler Konflikt zwischen Palästinensern und der israelischen Polizei in Ostjerusalem seinen Anfang nahm, läuft Gefahr, außer Kontrolle zu geraten.
Massive Unruhen
"Wenn das nicht gestoppt wird, rechnen wir mit einem kolossalen Bürgerkrieg in ganz Israel." Die Worte des Bürgermeisters von Lod, Jair Revivo, am Donnerstag sind deutlich. Seit Tagen herrschen in der zentralisraelischen Stadt, einst als Beispiel friedlicher Koexistenz gerühmt, massive Unruhen zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern. Die Szenen wiederholen sich in Akko, Bat Jam und andernorts.
Wurden zunächst arabische Aggressionen verurteilt und ein hartes Durchgehen gefordert, mehren sich nun die Stimmen von Politikern und Religionsführern, die Selbstjustiz anprangern und die Einhaltung von Recht und Ordnung anmahnen.
Die Spaltungen der israelischen Gesellschaft, warnte Übergangsverteidigungsminister Benny Gantz, seien "nicht weniger gefährlich als die Hamas". Die Situation sei ohne Beispiel, urteilte der israelische Polizeichef Kobi Schabtai. Eine Einschätzung, die Itzik Bar vom Heimatfront-Kommando der Streitkräfte auf die Situation am palästinensischen Gazastreifen ausweitet.
Entwicklung des aktuellen Konfliktes
Der Beschuss aus dem Gazastreifen ist heftig und dauert an. Laut örtlichen Medien lehnte Israel bereits mehrere Angebote zur Vermittlung einer Waffenruhe ab. Die sich immer weiter aufheizende Lage in den eigenen Straßen könnte ein Umdenken bringen. Nie zuvor gab es arabisch-israelische Unruhen diesen Ausmaßes, während am Gazastreifen die Raketen fliegen. Als beispiellos werten Beobachter die Beteiligung arabischer Israelis an den Protesten der Palästinenser in Ostjerusalem, die am Anfang der jüngsten Gewalteskalation standen.
Die Unruhen zu Beginn des Ramadan, als israelische Polizisten die bei Muslimen beliebten Stufen zum Damaskustor in Jerusalem absperrten, griffen über auf die Al-Aksa-Moschee und mit ihr auf ein religiöses und nationales Symbol der Palästinenser, das schon früher ein gefährlicher Brandbeschleuniger war. Der Funke sprang über in das Ostjerusalemer Stadtviertel Scheich Jarrah, in dem mehrere palästinensische Familien von Zwangsräumungen bedroht sind - zugunsten von jüdischen Siedlern.
Dabei geht es um mehr als um ein paar Häuser. Lange schon kritisieren Palästinenser israelische Versuche, Jerusalem, deren Ostteil die Palästinenser als künftige Hauptstadt beanspruchen, zu judaisieren und mit Siedlungsringen die Lebensfähigkeit eines palästinensischen Staats zu zerstören. Begriffe wie ethnische Säuberung und Entwurzelung prägen den Diskurs von Palästinensern und Aktivisten.
Gleich mehrere Konfliktherde
Auffallend ist: Es sind vor allem die Jungen, die demonstrieren, jene Generation also, die lange nach den Frieden versprechenden Oslo-Abkommen geboren wurde und die in ihrer Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit auch die Autorität der palästinensischen Führung zurückweisen. Das Ausmaß der Gewalt allein mit dem anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikt um Land erklären zu wollen, griffe jedoch zu kurz. Zum äußeren Konflikt kommen Zerwürfnisse in der israelischen Gesellschaft.
Zahlreiche vernachlässigte Konflikte haben sich aufgestaut: das ungelöste Problem Gazastreifen, eine andauernde ungleiche Behandlung der arabisch-israelischen Minderheit, eine seit Jahren wachsende Aufwiegelung durch rechtsnationales und radikales Gedankengut, die im Einzug des rechtsradikalen Politikers Itamar Ben-Gvir ins Parlament gipfelte, dem Übergangsministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Koalitionsbeteiligung in Aussicht stellte.
Schwierige politische Situation
Vier Wahlen in zwei Jahren, neuerlicher Stillstand bei der Regierungsbildung und ein Jahr umstrittene Pandemiebewältigung haben bei vielen das Gefühl hinterlassen, dass der Staat sich nicht für sie interessiert. Wiederholte Angriffe auf rechtsstaatliche Strukturen, namentlich auf das Oberste Gericht, schwächen das Gefüge zusätzlich.
Während also der alte Konflikt um das Heilige Land in neue Kämpfe ausbricht, hat sich an der Grundstimmung im Land etwas gefährlich verändert. "Unser Heim brennt, und wir haben kein zweites", warnte Präsident Reuven Rivlin am Donnerstag bei einem Treffen mit örtlichen Behörden in der Negev-Wüste. Ein einfacher Feuerlöscher wird in diesem Fall wohl kaum reichen, um den Brand unter Kontrolle zu bekommen.